ISERLOHN. Als ich an einem milden Frühlingsnachmittag das Gelände der historischen Fabrikanlage Maste-Barendorf erreiche, ahne ich noch nicht, was für eine lange Geschichte sich hinter dem idyllischen Fachwerkdorf verbirgt.
Eine leichte Brise lässt die Pollen durch die Luft tanzen und ein herrlicher Duft dringt durch die Fenster des Café Barendorf. Grüne Wiesen und Bäume stehen im Kontrast zu den Fachwerkhäusern und das Plätschern des Baarbachs unterstreicht diese Idylle. Lediglich der Nachmittagsverkehr der anliegenden Straße stört den Frieden. Einige Gäste sitzen im an das Café angrenzenden Biergarten und genießen die ersten Sonnenstrahlen. Auch, wenn das kühle Bier auf den Tischen sehr verlockend aussieht, so bin ich doch aus einem anderen Grund hier. Ich habe mich zu einer Führung durch drei Häuser der historischen Fabrikanlage angemeldet.
Pünktlich um zwei Uhr kommt Herr Häusser, der die Führung leiten wird, zum Treffpunkt. Mit mir warten bereits ein Pärchen und ein Mann. Ich senke den Altersdurchschnitt deutlich. Nach einer kurzen Begrüßung begeben wir uns auf die Spuren des Barendorfs.
Von Wasserkraft und Kinderarbeit
Zunächst erfahren wir, dass der Standort der Fabrikanlage nicht willkürlich gewählt wurde. 1822 wurde das erste Fabrikgebäude, spezialisiert auf die Produktion mit Messingguss, gebaut. „Damals gab es hier in Iserlohn noch keine Dampfmaschinen, also nutzte man Wasserkraft als Hauptenergiequelle“, erklärt Herr Häusser. „Der Baarbach wurde damals noch als ‚Flüsschen Baren‘ bezeichnet und sorgte für ausreichend Wasserkraft“.
Im Inneren des ersten Fachwerkhauses sehen wir ein Foto, welches die ehemaligen Arbeiter zeigt. Sofort fallen mir zwei Jungen ins Auge, die sehr jung erscheinen. „Diese Jungen sind deutlich jünger als zehn Jahre, das finde ich sehr erschreckend“, stimmt mir der Experte zu. Generell sind auf dem Foto nur Männer zu sehen, die beispielsweise Kerzenständer oder Briefkästen aus Messing gießen. Die Erklärung: „Die Frauen arbeiteten aufgrund ihrer schmalen Finger in der Nadelfabrik“.
Von anderen Zeiten und spannenden Geschichten
„Fahrräder waren damals sehr teuer, von Autos ganz zu schweigen. Die Arbeiter mussten oft viele Kilometer zur Fabrik laufen und dort bis zu zwölf Stunden am Tag arbeiten“, sagt Herr Häusser, was für uns heute unvorstellbar klingt, beschreibt Herr Häusser als damalige Realität.
Neben den Arbeitsbedingungen habe sich auch die Aufteilung des Dorfes verändert. „Damals war die Zufahrt direkt oben an der Straße, damit die Ochsen-Kutschen direkt von dort kommen konnten. Und das Dorf entstand auch erst im Laufe der Zeit“, weiß der Rundgangsleiter. Der Biergarten befindet sich dort, wo ehemals ein See war und auch von den Pflastersteinen konnten die Fabrikarbeiter nur träumen, denn damals bestand der Weg beinahe nur aus Schlaglöchern.
Von Haarnadeln und harter Arbeit
Als wir das nächste Gebäude betreten, fällt mir direkt der Geruch auf. Eine Mischung aus Omas Keller und abgestandener Kleidung strömt in meine Nase. Die Ursache hierfür erkenne ich schnell: Das Gebäude beherbergt zahlreiche alte Maschinen, die zur Haarnadelproduktion genutzt wurden. „Die Arbeit an diesen Maschinen war körperlich sehr anstrengend, viele Arbeiter klemmten sich ihre Daumen ein und es herrschte ein Höllenlärm“, beschreibt Häusser die Arbeitsbedingungen. „Außerdem war das Klima durch den Luftzug und die Feuchtigkeit rheumafördernd“. Anhand der Maschinen zeigt er uns, wie die Haarnadeln produziert wurden, die von Iserlohn bis nach Russland exportiert wurden.
Ich überlege mir, wie viel Haarnadeln heute kosten. Vermutlich nicht mehr als einen Euro, aber definitiv so wenig, dass ich mir keine Gedanken darüber machen muss. Ich frage nach, wo der Preis damals ungefähr lag. „Damals kosteten zehn Haarnadeln ein paar Pfennige. Das mag nach einem niedrigen Preis klingen, doch für die Arbeiter war das nicht gerade wenig Geld“, sagt Häusser.
Von Ochsen und Nähnadeln
„Ochsen waren die LKW von früher“, mit den Worten führt uns der Rundgangsführer in das letzte Gebäude. Nun begeben wir uns auf die Spuren der Nähnadeln, die bis nach China exportiert wurden. Aufgrund der hohen Nachfrage waren Ochsen für den Versand sehr wichtig. „Ochsen waren viel wert, Menschen hingegen gab es genügend und sie waren leicht ersetzbar“, erklärt er uns. „Wenn der Chef dann gebrüllt hat ‚Ihr Ochsen!‘, war das also ein Kompliment?“, fragt einer aus der Runde und bringt mich mit diesem Gedankengang zum Schmunzeln.
Auch zur Herstellung der Nähnadeln erzählt uns Häusser einige spannende Geschichten. Besonders beeindruckt mich das Foto einer Frau, die 81 Jahre lang für dieselbe Nadelfabrik arbeitete. „Sie hat mit sieben begonnen und ist mit 88 Jahren in den Ruhestand gegangen“, erklärt er.
Nachdem wir den gesamten Werdegang vom Drahtstückchen zur – damals kostbaren – Nadel verfolgt haben, sind wir auch schon am Ende der Führung angelangt.
Für mich steht fest, ich werde wiederkommen und das schon sehr bald, denn am 29. April steht das große Familien-Fahrradfest in der historischen Fabrikanlage Maste-Barendorf an. Ich freue mich jetzt schon sehr darauf, das Fachwerkdorf auch mal im bunten Trubel zu erleben und endlich das kühle Bier des Biergartens zu probieren.