Eine Stadtführung in Altena

Altena — „das kleine Venedig"

Burg Altena. Foto: Sebastian May
Foto: Sebastian May
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Foto: Sebastian May

ALTENA. Das gelbliche Licht der Sonne spiegelt sich in dem klaren Wasser, das durch die großen, hölzernen Fächer fließt. Neben dem alten, sich drehenden Wasserrad sitzen einige Jugendliche, Cap falsch herum, Zigarette im Mund, auf ihren mit Stickern beklebten BMX-Rädern und warten an der Bushaltestelle auf ihren Bus. Heidi Rosteck, Anfang 60, braune Haare, modern gekleidet, steht etwas entfernt von den Jugendlichen am Wasserrad. Während Sie dort wartet, kramt sie suchend in ihrer schwarzen Tasche. An ihrem Pullover hängt ein Schild: „Stadterlebnis Altena – Heidi Rosteck“.

Rosteck ist seit 15 Jahren Stadtführerin in Altena. Ihre anderthalb Stunden andauernde Stadtführung startet immer „Am Markaner“. Der Markaner ist der zentrale Platz in Altena. Am Rande der Fußgängerzone der Innenstadt gelegen, stehen ein modernes Gebäude, in dem Teile der Stadtverwaltung sitzen, daneben das imposante Wasserrad und ein schön gestalteter Drahtbaum, als Symbol für die Wichtigkeit der Drahtindustrie in Altena. „Ohne die Drahtindustrie gäbe es das heutige Altena nicht“, so Rosteck beim Start ihrer Stadtführung durch die Altenaer Innenstadt. Mit dabei ist Monika, Rentnerin, sie wohnt im Nachbarort Nachrodt. Eine aufgeweckte, blonde, gebürtige Altenaerin. Es ist nicht ihre erste Stadtführung, aber Altena, als ihre ehemalige Heimat, ist für sie trotzdem etwas Besonderes. Sie habe von der Stadtführung am Morgen in der Zeitung gelesen und sich dann dazu entschieden, an eben dieser teilzunehmen, erzählt Monika. 

Von drahtigen Rittern

Zu Beginn berichtet Rosteck besonders über die Drahtindustrie und warum Altena gerade dadurch schon bereits im Mittelalter zu großem Ruhm gelangte. Sie erklärt, dass das gesamte Tal, das unter der majestätischen Burg Altena liegt, einst mal ein riesiges Sumpfgebiet war, in dem sich die Materialien für die Herstellung von Draht an der Oberfläche ablagerten. Die Bewohner Altenas sammelten diese Materialien und stellten daraus Kettenhemden her. Deswegen zogen viele Ritter und Adlige nach Altena, um sich dort ihre Ausrüstung zu beschaffen. Dadurch wurde die Burg während des Mittelalters zu einem bewegten Hotspot in der Grafschaft des Märkischen Sauerlands.  

Nach dem kleinen Rückblick geleitet Heidi Rosteck ihre Gruppe in die urige Lennestraße. Die Lennestraße mit ihrer langen Fußgängerzone dient den Altenaern als Haupteinkaufsnabel, mit jeder Menge Cafés, kleinen Läden, Imbissen, kleinen Plätzen und dem berühmten Erlebnisaufzug, der jeden bei Interesse in einem gläsernen Aufzug bis hoch auf die Burg transportiert. Bevor die Gruppe gemütlich weiter durch die Lennestraße schlendert, führt Rosteck sie in eine kleine Nebengasse und blickt fasziniert auf eine etwas heruntergekommene Hauswand. Ein kleines Relief erstreckt sich an der Fassade dieses Gebäudes. Beim bloßen Vorbeispazieren mag das Relief uninteressant wirken, doch Rosteck erklärt, wofür es steht:

Das lustige Relief

1913 kaufte sich der Altenaer Adolf Rump ein Grundstück, auf dem ein Jahr zuvor noch eine 400 Jahre alte Kornmühle gestanden hatte und baute mit Hilfe des Architekten Ludwig Winner auf seinem Grundstück ein Haus. Vor diesem Haus befanden sich jetzt Heidi Rosteck und Monika. Der Clou der Geschichte: Rumps Haus sollte einen Erker erhalten, doch der damalige Stadtbaurat Bolle verbot den Bau. Die Begründung: Ein Münsteraner Prüfer für Statik, mit Namen Hase, war gegen den Bau. Der erzürnte Rump rächte sich für den untersagten Erker, indem er dieses Relief anfertigte. Schaut man sich das Relief genau an, erkennt man schnell alle Beteiligten: Ein Jäger (steht für den Architekten Winner) steht, sich an eine große Eiche (Rump) lehnend, vor einer alten Kornmühle mit einem Erker und feuert auf einen davonsprintenden Hasen (Münsteraner Prüfer). Jener Hase verliert seinen Bollen (Stadtbaurat Bolle) und flüchtet schnell hinter die nächsten Büsche (Bürgermeister Büsche).

Laut Rosteck sorgte dieses Relief seit seiner Entstehung für ein Lächeln in der Altenaer Bevölkerung und sorgte obendrein dafür, dass der zuständige Stadtbaurat sein Amt niederlegte.

Geschichten außerhalb des Idylls

Nach der Betrachtung des Reliefs begibt sich die Gruppe wieder in die langgezogene Lennestraße. Alte Fachwerkshäuser wechseln sich ab mit etwas in die Jahre gekommenen Hausfassaden. Viele leere Läden. Wenig Menschen. Ab und an spazieren ältere Rentner und junge Familien vorbei. Vorbei an kleinen Plätzen, die eher so wirken, als wäre dort ein Haus eingerissen worden und einfach kein neues gebaut worden. „Hier stand mal ein Haus, das hatte Hausschwamm und musste deswegen abgerissen werden“, sagt Rosteck. Der Verdacht bestätigt sich. Dennoch haben diese kleinen Plätze eine Ausstrahlung. Kühler Wind weht aus Richtung des an der hohen Felswand herunterplätschernden kalten Wassers, das in einer Art Brunnen aufgefangen wird. Davor steht eine hölzerne Bank auf einer kleinen Erhebung. Das augenscheinliche Idyll inmitten mehrerer alt wirkender Häuser. 

Dennoch trägt fast jedes dieser Gebäude eine Geschichte in sich. Da ist beispielsweise die Geschichte eines jungen Mädchens, welches während des zweiten Weltkriegs in einer kleinen Obergeschosswohnung, in der sie mit ihrer Familie wohnte, Gänse hielt, welche normalerweise getötet worden wären, da das Essen knapp war. Oder die Geschichte eines angetrunkenen jungen Altenaer Mannes, der auf einem Stadtfest von einem Gebäude zum anderen kletterte. Aber auch die vielen Hochwasser haben ihre Spuren hinterlassen. Die Lenne, die direkt durch Altena läuft, neigt dazu, im Frühjahr über das Ufer zu laufen und die Stadt unter Wasser zu setzen. Alte Fotos in einem Schaufenster zeigen, wie die Menschen auf kleinen Ruderbooten durch die Innenstadt paddelten. Ebenso dienen die kleinen Treppenstufen, welche sich teilweise vor den Gebäuden befinden, als Schutz gegen das Hochwasser. Genauso wie kleine Vorrichtungen, auf welchen man Balken platzieren kann, damit das Wasser nicht in die Lennestraße fließt. Altena — „das kleine Venedig“.

Die Suche in der Vergangenheit

Als die Gruppe vor dem Erlebnisaufzug ankommt, tritt ein älterer Mann an sie heran. Er sieht aus wie ein Rentner, trägt eine knallrote, etwas abgetragene rote Jacke, an der eine Anstecknadel, bestehend aus kleinen Pinseln, befestigt ist und hat einen markanten Hut auf dem Kopf. Er erzählt, dass er sechs Jahre lang in der Burg Altena wohnte, da seine Mutter die Leiterin der Jugendherberge war. „Ich wollte raus aus Altena und machte eine Ausbildung zum Koch in der Schweiz“, so erklärt der alte Mann. Es folgt eine Beschreibung seines bewegten Lebenslaufs. Doch jetzt ist er wieder hier in Altena. Im Urlaub. Auf den Spuren der Vergangenheit. Genauso wie Monika und Heidi Rosteck.

Als nächstes Highlight steht die Kirche an. Es ist eine außergewöhnlich schöne, 2009 neu renovierte, protestantische Kirche. Von außen unauffällig, aber schön. Von innen viel Weiß, viel Gold, viel Glanz. Sie steht auf einer Anhöhe über dem Boden der Fußgängerzone. Und auch hier gibt es eine Geschichte. Dort, wo jetzt die Kirche steht, lag einst ein Friedhof. Um die Totenruhe nicht zu verletzen, baute man die Kirche auf den Friedhof.

Bevor die Führung sich dem Ende neigt, beantwortet Rosteck selbst eine spannende Frage: Wünschst du dir manchmal, selbst in den Zeiten der Geschichten zu leben? „Nein, ich freue mich, dass ich so leben kann wie heute. Vielleicht, wenn man irgendwann einmal einen Blick aus einer sicheren Position ins Mittelalter werfen kann. Von einem Satellit oder so. Aber man darf auch nicht vergessen, dass das Leben damals nicht schön war.“ Die Führung endet wieder am Markaner. Es sitzen dieses Mal andere Jugendliche an dem großen Platz. Cap falsch herum, Zigarette im Mund. Noch keine Geschichten. Aber vielleicht in 100 Jahren.

Von Sebastian May
Veröffentlicht am 25.10.2017