Die Bürde der Vergangenheit

Die Scherben der Vergangenheit sind eine Last. Dennoch führen die Stufen für Daniel nur in eine Richtung. Foto: Carsten Rose

Iserlohn. Daniel war ein brutaler Schläger, drogenabhängig und obdachlos. Eine soziale Einrichtung ist vorerst das zweite Zuhause des 23-Jährigen.

Im Alter von 15 Jahren setzen Daniels (Name geändert) Eltern ihren Sohn auf die Straße. Der Verweis von der Hauptschule,  Drogensucht und Alkoholkonsum veranlassen seine serbische Mutter und den italienischen Vater, sich von Daniel zu trennen. Es ist nicht nur ein Rausschmiss, es ist der Startschuss in die Perspektiv- und Mittellosigkeit: Die Eltern vernichten jegliches Hab und Gut des Teenagers. Keine Kleidung, kein Geld, keine Habseligkeiten. Ihm bleiben nur die Erinnerungen an eine Zeit, die seinen folgenden Werdegang stark prägen. Ohne Abschluss – seine schulische Laufbahn endete in der achten Klasse – und Berufsbildung lebt er mehr als eine Woche auf der Straße. Danach nimmt ihn sein Bruder auf.

Infolge einer Verurteilung muss Daniel 150 Sozialstunden im Sozialzentrum der Evangelischen Versöhnungs-Kirchengemeinde in Iserlohn leisten. Die Institution trägt den tiefsinnigen Namen „Lichtblick“ und liegt oberhalb des Fritz-Kühn-Platzes. Seine vorübergehende Arbeit gibt ihm Lebensmut und bietet einen Neuanfang. Zusätzlich bringt sie ihm Respekt bei seinen verbliebenen Freunden ein. Sie greifen ihm in manchen Situationen unter die Arme; unter dieselben Arme, an denen sie Daniel früher tief in den Sumpf aus Drogen und Gewalt gezogen haben.

Es sind 39 Stufen hinunter in den Park. Die Lage der Einrichtung hat symbolischen Charakter, denn Daniel arbeitet in direkter Nähe zu seinem Vorleben. Er steigt die Treppe nur noch hinab, wenn er muss. Hinab in seine Vergangenheit, seine Erinnerungen möchte er nicht mehr. Daniel hat große Angst vor einem Rückfall und deswegen den Kontakt zu vielen ehemaligen Wegbegleitern abgebrochen.

Von der Straße in den Knast

Daniel beginnt kurz nach seiner unfreiwilligen Eigenständigkeit, sich Geld durch Einbrüche und Diebstähle zu beschaffen. Er raubt eine Tankstelle aus, schlägt wehrlose Passanten nieder, klaut Autos. All das im Alter von 15 Jahren. Einen Führerschein besitzt er logischerweise nicht. Während er diese Vorgänge schildert, wischt er sich mit einer Hand durch das Gesicht. Bei jedem Erlebnis von neuem; mal mit links, mal mit rechts. Es scheint, als wolle er sich seines emotionalen Ballasts auch durch seine Gestik entledigen. Die Ambivalenz der heutigen Zeit und seiner Jugend spiegelt auch das Inventar des Essensraums der sozialen Einrichtung wider: Hinter ihm steht ein Regal, es ist geordnet. Zwischen all den Büchern sticht vor allem ein Exemplar hervor: Es ist ein dunkelfarbiger Bund mit der goldenen Aufschrift „Die Bibel“.  Nur die Tönung des Einbandes steht in irgendeiner Verbindung zu seiner Lebensgeschichte.

„Ich habe in Duisburg einen Mann verprügelt, beraubt und habe sein Auto geklaut. Da war ich 16 Jahre alt. In Iserlohn wurde ich dann von der Polizei festgenommen“, sagt Daniel. Sein Deutsch ist ein wenig gebrochen, aber verständlich. Er ist gefasst, seine Arme hat er auf dem Tisch gekreuzt. Er blickt aus dem Fenster. Auf dem kirchlichen Gebäude ragt der Schriftzug „Anno“ hervor – deutlicher kann der Einschnitt in seinem Leben nicht untermalt werden. Zweieinhalb Jahre verbringt er in der Justizvollzugsanstalt Iserlohn, anschließend zwei Monate in Hamm und acht in Münster. Heute hat er noch drei Jahre und vier Monate auf Bewährung. Daniel weiß es genau, er wartet sehnsüchtig auf seine juristische Freiheit.

Sein Körper zeigt deutliche und nicht revidierbare Spuren seiner Tage hinter Gittern. Es sind keine Narben oder offensichtliche Verletzungen. Es sind Tätowierungen. Auf dem linken Unterarm fährt er mit dem rechten Zeigefinger die Buchstaben des Namens seiner Nichte ab. Indira, steht dort in etwas schwierig zu entziffernden Druckbuchstaben. Die Schrift ist grünlich, amateurhaft verarbeitet, leicht verblasst. Weiter zeigt er auf seine rechte Schulter, auf den Namen seiner Mutter, Nevenka.  Auch wenn er keinen Kontakt mehr zu ihr hat, ist er und will er auch immer emotional mit ihr verbunden sein. Sie ist ein Teil von ihm. Der Playboyhase ziert die andere Schulter; dieses Tattoo war ein Akt der Langeweile. Ein vierter Schriftzug ist auf seinem Rücken verewigt: „Street“, der englische Begriff für Straße. Nicht nur der Ausdruck, sondern auch die Position illustriert die Vergangenheit eines jungen Mannes, der heute nur noch nach vorne schaut. Alle Körperbilder sind in der Iserlohner JVA durch die Hände seines Zellennachbarn entstanden. Verbotenerweise, natürlich. „Weitere Tattoos dieser Art möchte ich aber nicht. Ich möchte nicht noch mehr mit mir herumtragen, das mit meiner Vergangenheit zu tun hat.“

Optimismus, Träume und Fürsprecher

Nicht nur Daniel sieht eine Besserung seiner Lebensführung. „Seitdem er hier ist, ist er ruhiger geworden. Er ist pünktlich und macht seine Arbeit ordentlich. Während seiner Arbeit nimmt er keinerlei Drogen – das rechnen wir ihm hoch an“,  attestiert die stellvertretende Leiterin, Karin, ihm eine positive Entwicklung. Karin ist eine kräftigere Frau, ebenso gezeichnet von einer harten Vita. Im Umgang mit Daniel ist sie ehrlich und direkt. Sie ist wortgewandt, mit einem Drang zum Sarkasmus. Ihre Anweisungen sind unmissverständlich. Nicht übermäßig befehlend, aber bestimmt.

Seinen Drogenkonsum außerhalb begrenzt Daniel nach eigener Aussage auf Marihuana und Alkohol. „Mit Pep habe ich schon vor zwei Wochen aufgehört. Bin damit also clean.“ Ein kleiner Erfolg, ein kleiner Schritt in Richtung Neubeginn.

Seit dem elften Lebensjahr ist Koch Daniels Traumberuf. Eine weitere Lösung wäre eine Ausbildung als Maler und Lackierer, doch zuerst will er seinen Abschluss nach Ablauf der Bewährungsstrafe nachholen. Die Lichtblick-Leitung will Daniel so gut es geht auf diesem Weg unterstützen. „Es wäre schön, wenn ein Junge wie er, der die Absicht hat, aus dem Sumpf herauszukommen, Arbeit findet. Das ist heutzutage aber so gut wie unmöglich. Jeder Arbeitgeber möchte ein gutes Zeugnis sehen. In meinen Augen wird er es aber irgendwann schaffen.“

Wenn alles eine positive Wendung nimmt und er von Rückschlägen verschont bleibt, startet Daniels neues Leben, wenn er seinen Hemmschuh ablegen kann, in drei Jahren und vier Monaten. Die endgültige neue Zeitrechnung ohne Rückstände seiner Vergangenheit, die grünlichen Verzierungen auf seinem Körper ausgenommen, beginnt nichtsdestotrotz erst im Alter von 42 Jahren. Dann muss Daniel sich einer Operation unterziehen, denn aufgrund möglicher Folgeschäden ist ein früherer Eingriff nicht zu verantworten.  Er leidet unter einem Gehirntumor. Er erwähnt seine Krankheit sehr spät, beinahe regungslos, nur von einer kurzen Atempause begleitet. Scheinbar ist sie nur zweitrangig. Aber irgendwie erscheint es auch logisch: Daniel persönlich kann über diesen Teil seines Lebens nicht entscheiden. Vorrang genießen sein nun geregelter Alltag, die ausstehenden Sozialstunden und die restlichen drei Jahre und vier Monate seiner Strafe.

Tick, tick, tick. Im Hintergrund über dem geordneten Regal, über der Heiligen Schrift, tickt eine Uhr. Unaufhörlich.

Von Carsten Rose
Veröffentlicht am 04.06.2012