Hilfe für Kinder alkoholkranker Eltern

„Flaschenkinder“ – Helfen, wenn keiner da ist

Hans Stumm (links) und Kathrin Lange haben vor 17 Jahren „Flaschenkinder“ gegründet. Foto: Marc Lemke
Der Aufenthaltsraum im „Flaschenkinder“-Haus. Foto: Marc Lemke

ISERLOHN. Vor 17 Jahren haben Kathrin Thielmann-Lange und Hans Stumm die Initiative „Flaschenkinder“ ins Leben gerufen und helfen Kindern von alkoholkranken Eltern. Seit 2007 ist „Flaschenkinder“ ein eingetragener Verein. Doch was tut „Flaschenkinder“ für die Kinder? Um das herauszufinden, hat Maerkzettel mit Kathrin Thielmann-Lange gesprochen.

Maerkzettel: Wie kam es dazu, dass Sie die Initiative „Flaschenkinder” gegründet haben?

Kathrin Lange: Das Ganze ist eigentlich aus der Wut und Verzweiflung entstanden. Ich bin selber Kind eines Alkoholikers. Damals gab es keine Hilfe für mich. Mein Vater ist, als ich 25 war, verstorben, und ich habe das Ganze seitdem versucht zu verdrängen. Das hat geklappt, bis ich 30 war. Da stand mein kleiner Sohn mit seinem besten Freund vor mir und hat Hilfe für seinen Freund gesucht, dessen Mama lag betrunken in der Wohnung.

Maerkzettel: Und wie haben Sie dann reagiert?

Kathrin Lange: Ich wusste, dass der Junge Hilfe braucht und habe eine Stelle gesucht die ihm helfen könnte. Das war allerdings nicht so einfach, ich habe mich durch ganz Nordrhein-Westfalen telefoniert. Nirgendwo gab es eine Einrichtung, die dem Jungen hätte helfen können.

Maerkzettel: Also haben Sie entschieden, das Thema selbst in die Hand zu nehmen?

Kathrin Lange: Richtig, ich habe mir gedacht, wenn es keine Stelle gibt, dann mache ich es. Damals war mir klar, dass ich dafür Hilfe brauchte. Ich selber bin zwar eine Betroffene, habe aber gar keine Ahnung von Sucht und Alkoholismus. Also habe ich bei der Selbsthilfegruppenzentrale für Alkoholiker gefragt, ob es denn Menschen gibt, die mich unterstützen können.

Maerkzettel: Und von dort haben Sie dann Hilfe bekommen?

Kathrin Lange: Ich habe von denen die Nummer von Hans Stumm, selber ein trockener Alkoholiker, bekommen und bei ihm angerufen. Der war sofort begeistert von meiner Idee, eine Woche später stand die erste Homepage.

Maerkzettel: Dann lief das Ganze ja gut an. Wie finanzieren Sie denn das ganze Projekt? Sie müssen ja die Unterbringung sowie Strom und Wasser bezahlen und Zeit für die Kinder haben.

Kathrin Lange: Wir bekommen Sach- und Geldspenden von Förderern. Die Unterbringung haben wir über die Stadt bekommen, das war damals sehr viel Arbeit, aber die Miete und Nebenkosten sind für uns angepasst worden. Außerdem sind wir bei der Stadt eingetragen und bekommen die Zahlungen aus Bußgeldern zur Förderung von „Flaschenkinder”.

Maerkzettel: Dann sind Sie finanziell gut abgesichert. Wie kommen die Kinder eigentlich auf Sie zu?

Kathrin Lange: Die Kinder stehen hier nicht plötzlich vor der Tür. Meistens kommen die über Facebook zu uns. Da schreibt aber fast niemand, dass ein Elternteil ein Alkoholproblem hat. Die Kinder schreiben uns an und fragen um Rat für den Cousin des Bruders der Nachbarn. Da kann ich aber wenig machen. Ich biete denjenigen dann immer an, zu uns zu kommen und mal zu reden. Und wenn die dann hier sind, wird meist schnell klar, dass es nicht um den Cousin des Bruders der Nachbarn geht, sondern um sie selber.

Maerkzettel: Ab welchem Alter kommen die denn zu „Flaschenkinder”?

Kathrin Lange: Es ist normalerweise so, dass die Kinder ab 12 Jahren und aufwärts zu uns kommen. Es gibt natürlich auch jüngere Fälle, aber meistens fällt das erst ab einem gewissen Alter auf, dass Mama oder Papa trinkt.

Maerkzettel: Und was tun Sie dann für diese Kinder, die zu Ihnen kommen?

Kathrin Lange: Ich versuche eine Vertrauensbasis aufzubauen, dabei hilft mir, dass ich als Betroffene weiß, wie es den Kindern geht. Das funktioniert daher auch ganz gut. Die Kinder suchen ja nach jemandem, dem sie vertrauen können. Normalerweise trinkt nur ein Elternteil, dass beide trinken, kommt so gut wie nicht vor. Als nächstes versuche ich dann, den gesunden Elternteil mit an den Tisch zu bekommen. 

Maerkzettel: Warum wollen Sie den gesunden Elternteil als ersten dazu bekommen?

Kathrin Lange: Das ist ganz einfach, ich erkläre dem Papa oder der Mama die Situation für ihr Kind. Die Angehörigen von Alkoholkranken sind meistens so mit sich selbst beschäftigt, dass sie gar nicht merken, dass ihr Kind unter der Situation leidet. Bei uns bekommen sie erstmal mit, dass es nicht nur um sie und ihren Partner geht.

Maerkzettel: Und mit deren Hilfe versuchen Sie dann, auch dem Kind zu helfen?

Kathrin Lange: Richtig. Mit deren Hilfe versuchen wir, als nächstes den Papa oder die Mama, die trinkt, hier zu uns an den Tisch zu bekommen. Denn, wenn das klappt, trinken die nie wieder ohne ein schlechtes Gewissen. Wir haben mit Herrn Stumm jemanden hier, der eine sehr klare und harte Linie mit den alkoholkranken Eltern fährt. Der weiß als trockener Alkoholiker auch, wovon er spricht.

Maerkzettel: Greifen Sie denn auch auf andere Hilfe zu? Zum Beispiel vom Sozialamt oder von Psychologen?

Kathrin Lange: Wir versuchen, das Sozialamt so weit wie möglich rauszuhalten. Wenn wir den Ruf hätten, wirklich eine Behörde zu sein und zu handeln wie die Sozialämter, dann würden wir sehr schnell das Vertrauen der Kinder verlieren. Natürlich rufen wir beim Sozialamt an, wenn es nicht mehr anders geht, wenn beispielsweise Gewalt im Spiel ist. Außerdem arbeiten wir mit Kinderpsychologen zusammen. Wenn die dann nicht mehr weiter wissen, kommt auch das Sozialamt ins Spiel.

Maerkzettel: Sie sehen sich dann also mehr als Hilfestelle als eine Kontrollstelle?

Kathrin Lange: Richtig. Die Kinder können bei uns Zuflucht finden, wenn die Eltern betrunken sind. Treffen hier auch ihresgleichen, also Kinder die in der gleichen Situation sind, um sich auszutauschen. Sie können hier mit uns reden, oder uns über unsere Kindernotrufnummer erreichen. Wir wollen für die Kinder da sein und ihnen in ihrer schwierigen Situation helfen.


Von Marc Lemke
Veröffentlicht am 30.05.2017