Arbeit in einer Jugendschutzstelle

„Für diesen Job brauchst du ein dickes Fell“

Sozialarbeiter Niklas Lagemann hilft in der Schutzstelle Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen. Foto: Max Sinn

Der 23-jährige Niklas Lagemann arbeitet seit 2017 in einer Iserlohner Schutzstelle für Jugendliche und hat dort auch seine Ausbildung gemacht. Im Gespräch mit MAERKZETTEL spricht er unter anderem über seinen Arbeitsalltag in der Schutzstelle und den Umgang mit den Jugendlichen.

ISERLOHN. Für viele Jugendliche mit Problemen kann eine Schutzstelle eine große Hilfe sein. Seit gut 25 Jahren ist die Iserlohner Schutzstelle für Jugendliche da. Rund 130 von ihnen werden im Schnitt jährlich dort aufgenommen, damit ihnen in schwierigen Lebenssituationen geholfen wird.

MAERKZETTEL: Was genau ist eine Jugendschutzstelle überhaupt?

Niklas Lagemann: Eine Jugendschutzstelle ist ein Aufnahmeort für Jugendliche im Alter zwischen 12 und 17 Jahren. Diese werden aufgrund von Krisensituationen im Elternhaus durch das Jugendamt oder das Ordnungsamt bei uns in Obhut genommen. Man kann uns also auch als Inobhutnahme bezeichnen.

Was meinst Du damit genau? Leben die dann bei euch?

Ja, so in etwa. Zumindest können sie bei uns übernachten. Tagsüber dürfen sie auch ohne Beschränkung nach draußen. Unsere Arbeit ist ein Angebot, niemand ist verpflichtet, bei uns zu sein. Aber meine Erfahrungen zeigen, dass die meisten gerne bei uns sind.

Kommen zu euch nur Jugendliche, die von ihren Familien getrennt wurden oder gibt es noch andere Gründe?

Die Probleme der Jugendlichen sind sehr unterschiedlich. Oftmals ist es tatsächlich die Gewalt im Elternhaus. Aber da gibt es nicht nur die Version „Vater schlägt Kind“, sondern auch „Kind schlägt Vater“. Dann kommen auch Jugendliche zu uns, die größtenteils auf der Straße leben. Die fallen dann vor allem durch Drogenkonsum oder andere Straffälligkeiten auf. Es kommen aber teilweise auch körperlich oder physisch misshandelte Kinder zu uns. Also die Gründe einer Aufnahme sind sehr verschieden.

Aber dann gibt es ja bestimmt auch Jugendliche, die ihr ablehnt, oder?

Nein, nein. Wir nehmen immer auf, aber wie das in einer Schutzstelle so ist, ist es zeitlich begrenzt. Vorgesehen sind maximal drei Monate. Wir sind eher eine Übergangsgruppe, die versucht, für die Jugendlichen Wege zu ebnen. Und wir entscheiden: Kann das Kind zurück in sein gewohntes Umfeld? Oder kann eine andere Wohngruppe das Kind aufnehmen?

Trotzdem muss es bei euch doch eine Höchstgrenze an Jugendlichen geben.

Ja, wir haben insgesamt Schlafplätze für zwölf Personen, verteilt auf sechs Zimmer, davon sollten aber nur zehn belegt sein und zwei Platz für kurzfristige Schlafmöglichkeiten bieten. Aber wir wünschen uns natürlich immer, dass möglichst wenig Betten belegt sind.

Die Sicht eines Mitarbeiters

Wie sehen eigentlich deine Arbeitszeiten aus?

Ich habe immer ein bis zwei Nachtdienste in der Woche. Die starten dann nachmittags um 16 Uhr und enden morgens um 8:30 Uhr. Am Wochenende habe ich dann eine 24-Stunden-Schicht von 13:30 Uhr bis 13:30 Uhr am nächsten Tag. Wir Betreuer haben natürlich zusätzlich ein Einzelzimmer, in dem wir dann vor Ort übernachten können. Ich muss also nicht die ganze Nacht wach bleiben. Nebenbei studiere ich aber noch Soziale Arbeit, weshalb ich nicht jeden Tag arbeite.

Vertreibt ihr euch die Zeit mit den Jugendlichen oder lasst ihr sie in Ruhe?

Das kommt immer auf die Jugendlichen an. Es gibt viele, die schon häufig in Jugendhilfen waren und schlechte Erfahrungen gemacht haben. Die haben oftmals Schwierigkeiten, sich darauf einzulassen. Es gibt aber auch sehr viele, die unsere Hilfe annehmen. Dann führen wir Gespräche mit ihnen oder bieten auch mal Einzelangebote wie Spaziergänge zum Reden an.

Was würdest Du denn als Deine wichtigsten Werkzeuge bezeichnen?

Auf jeden Fall mein Wissen, wie und warum die Jugendlichen so drauf sind, wie sie es sind. Ganz wichtig ist aber auch meine Art zu reden, denn als Sozialarbeiter darfst du nicht zu verschlossen sein. Du brauchst auf jeden Fall die Fähigkeiten, einen Jugendlichen zu animieren, sich zu öffnen. Beispielsweise sollte man keine geschlossenen Fragen stellen, sondern eher offene, um die Person zum Nachdenken anzuregen.

Wenn Du zurückdenkst, was sind gute Erfahrungen, die Du bis jetzt gemacht hast?

Da fallen mir sofort die stundenlangen Gespräche mit Jugendlichen ein. Die fangen an mit „ich habe kein Problem“ oder „ich bin nicht süchtig“ und wenn man aus dem Gespräch herauskommt heißt es: „schön, dass Du Dir mal die Zeit genommen hast“. Oder wenn ich einen Brief bekomme, in dem Jugendliche sich bedanken, dass ich sie so unterstützt habe und ihnen das viel bedeutet. Generell sind es bei meiner Arbeit die kleinen Erfolge, wenn ein Jugendlicher sonst immer unterwegs war und auf einmal freiwillig in der Schutzstelle bleibt.

Die Ziele der Jugendlichen setzt ihr also auch kleinschrittiger.

Definitiv. Man darf nicht sagen „der Junge muss einen Schulabschluss machen, sonst habe ich nichts erreicht“. Im Prinzip fängt man bei Null an. Der eigentliche Erfolg ist, wenn der Jugendliche morgens regelmäßig aufsteht und zur Schule geht. Bei großen Zielsetzungen fühlt er sich unter Druck gesetzt.

Gerade haben wir über Deine positiven Erfahrungen gesprochen. Welche schlechten Erfahrungen hast du gemacht?

Jugendliche, bei denen man den Abwärtstrend „live“ miterlebt. Das sind meistens die, die zu Beginn noch relativ verhaltensunauffällig waren. Auf einmal von den Eltern getrennt zu sein, kann aber für sie sehr traumatisch sein und sie abrutschen lassen. Man wendet sich an falsche Freunde, wo Drogen, Alkohol oder auch Diebstahl und andere Kriminalität auf der Tagesordnung stehen. Aber auch Selbstverletzung ist schlimm zu sehen. Wenn ich da eine Person sitzen habe, die sich beide Arme aufgeschnitten hat.

Was musst Du als Arbeiter in einer Schutzstelle mitbringen?

Du brauchst auf jeden Fall ein dickes Fell, um sowas auszuhalten. Auch Beleidigungen musst du überhören können. Generell versuche ich immer, nichts zu nah an mich heranzulassen. Ich sage immer, dass Dinge, die auf der Arbeit passieren, dort auch bleiben sollen. Trotzdem ist es wichtig, auch mal Schwäche zu zeigen. Vor allem, um Zugang zu Jugendlichen zu bekommen. Ihnen zu zeigen, dass jeder Mensch Stärken und Schwächen hat.

Wenn du heute nochmal vor der Wahl stehen würdest, in die Schutzstelle zu gehen, würdest du dich genauso entscheiden?

Ja, zu hundert Prozent. Die Arbeit ist sehr fordernd, aber auch sehr erfüllend. Ich würde mich genauso entscheiden, weil ich gerne vielen Jugendlichen helfen möchte und ihre Fortschritte begleiten darf.

Von Max Sinn
Veröffentlicht am 24.05.2020