Sechs Tage

Srebrenica - ein Ort, wo selbst das Schöne zu sterben vermag. Foto: Ammar Nukic
Blumen für gefallene Zivilisten. Foto: Ammar Nukic
Knapp über 6000 Gräber stehen heute in Potocari, Srebrenica. Mehr als 2000 fehlen noch. Foto: Ammar Nukic
"Sagt nicht, dass sie auf Gottes Weg starben. Sie sind tot. Nein sind sie nicht, sie leben, doch ihr spürt es nicht", steht auf jedem Grab. Foto: Ammar Nukic

SREBRENICA - Vier Jahre herrschte der Krieg in Bosnien und Herzegowina. Mehr als 41.000 Menschenleben wurden ausgelöscht. Nun 22 Jahre später sind die beiden Hauptverantwortlichen für die hohe Opferzahl zur Verantwortung gezogen worden. Zijad und Meho erzählen ihre Geschichte, wie sie dem Tod begegneten.

Die Sonne scheint, es ist lauwarm und das Thermometer zeigt knapp über 15 Grad. Es ist Mitte März 1993, man sieht die ersten Blüten langsam aufblühen und aus dem dunklen Grau wird ein buntes, farbfreudiges Land. Der Frühling beginnt, eine Zeit, in der neues Leben erweckt wird, doch nicht in diesem Jahr, erinnert sich Zijad Nukic (43) zurück. „Ich war draußen auf dem Feld, als ich plötzlich Schüsse hörte.“ In Cerska, einem kleinen Dorf rund 30 Kilometer von Srebrenica entfernt, fallen die ersten Schüsse und wenige Stunden später in Konjevic Polje. Beide Gebiete werden von General Ratko Mladic und seinen Truppen eingenommen. Nun beginnt die Flucht und der Kampf um das Überleben. Die übrigen überlebenden Einwohner der beiden Dörfer fliehen in die Stadt Srebrenica, wo sie sich Zuflucht erhoffen. Doch die Reise – ein Albtraum. Bomben und Schüsse verfolgen die Flüchtenden. Immer wieder und wieder hört man laute Knalle, Schreie und sieht nur, wie die Luft immer unklarer durch die ganzen Explosionen wird. 13 Menschen verlieren ihr Leben, auf der Suche nach Ruhe und Frieden.

„In Srebrenica hatten wir zwölf Quadratmeter für fünf Personen“, sagt der heute 43-Jährige. Für die Verletzten gibt es keine Ärzte und die medizinische Versorgung ist somit stark eingegrenzt. „Wenige Tage später flohen meine beiden Schwestern mit meiner Mutter und meinem dreijährigen Neffen nach Tuzla. Sie setzten sich in einen Konvoi, die Verabschiedung war nicht leicht, vor allem, da ich nicht wusste, ob sie dort heile ankommen werden. Und ich wusste nicht, ob ich sie je wiedersehen werde.“ 

April: Es ist ruhig in Srebrenica, auf einem Rasenplatz gegenüber der Polizei spielen Jugendliche Fußball. Andere gucken zu. Alle im Alter zwischen 14 und 22. Plötzlich explodiert eine Panzerbombe. 60 Menschen sterben. Tage darauf erklärt die UN, auf Wunsch des Generals der bosnischen Serben -Ratko Mladic- Srebrenica als waffenfreie Schutzzone. Alle Einwohner Srebrenicas müssen ihre Feuerwaffen den Vereinten Nationen übergeben. Doch Mladics Truppen, auch Cetniks genannt, rund um Srebrenica dürfen ihre Waffen behalten. Das Leben in Srebrenica ist hart. Die Konvois mit den Lebensmitteln können nicht in die Stadt eindringen, da es die Truppen der bosnischen Serben nicht zulassen. Mladic will, dass die Menschen verhungern. Ein Brot, so groß wie ein Neugeborenes, wird auf acht Leute verteilt.

Richtige Entscheidung

Ruhe tritt ein bis Juli 1995. Dann nehmen die Cetniks die Kontrollpunkte der UN am 8. Juli ein und starten die ethnische Säuberung in der Schutzzone Srebrenica. Granaten, Bomben, Munition, Schreie sind zu hören. Kaum etwas ist zu erkennen, die Luft ist stickig und es ist bewölkt durch die ganzen Explosionen. Man weiß nicht mehr, wer wer ist und, ob man nicht gerade in den Tod läuft. Die Bosniaken fliehen. Ein Teil der Zivilbevölkerung flieht nach Potocari, ein Stadtteil Srebrenicas, wo sich der Stützpunkt der United Nations befindet. Was darauf folgt ist ein reines Massaker. Männer werden von den Frauen getrennt und die Kinder von deren Müttern. Auch die Kinder werden nach Geschlechtern getrennt. 8372 Menschen, größtenteils Männer, werden auf grausame Art und Weise massakriert und in Massengräber geworfen.

Der andere Teil der Zivilbevölkerung flieht durch die Wälder in Richtung Tuzla, ins Schutzgebiet der bosnischen Armee. Rund 10.000 Menschen fliehen, eine Kolonne von 15 Kilometern und einer hinter dem Nächsten. „Wir sind hintereinander gelaufen, wegen der Landminen, die es in den Wäldern gab und um uns schnell verstecken zu können, falls Cetniks auftauchen sollten“ erzählt mir Zijad. Die Menschen müssen aus dem Fluss trinken und das essen, was sie gerade in den Wäldern finden. „Manche fingen an zu halluzinieren. Sie riefen „Stadt“, obwohl wir mitten im Wald waren, andere zielten mit den Feuerwaffen auf andere, da niemand wusste, wer wirklich wer ist. Ein Mann hat mich fast umgebracht. Vor Angst hat er den Stift einer Handgranate gelöst und sich selbst umgebracht, ein paar Meter von mir entfernt. Er wollte schnell und schmerzlos sterben und nicht mit einem Messer massakriert werden, bis man seine Leiche später nicht mehr hätte erkennen können. Er verletzte drei weitere durch seinen Selbstmord“ so der 43-Jährige. Kurz vor der Rettung in Tuzla explodiert plötzlich eine Panzergranate, die vier Menschen tötet und Zijad an Fuß und Bein verwundet. Die letzten beiden Kilometer muss der heute vierfache Vater gestützt werden. Sechs Tage dauerte die Reise – die Reise die über Leben und Tod entschied.

„In einem Einkaufsladen fand ich Schokolade und fragte den Verkäufer, wie viel eine Tafel kostete. Er sagte mir eine Mark, was umgerechnet 50 Cent entspricht. Vor Glück kaufte ich mir für 28 Mark Schokolade. Ich hatte über zwei Jahre keine Schokolade mehr gegessen, denn in Srebrenica ist Schokolade ein Luxusgut gewesen, welches sich kaum einer leisten konnte“. Zijad ist froh, dass er sich entschieden hat nach Tuzla zu flüchten und nicht nach Potocari, wo er wahrscheinlich auf eine grausame Weise massakriert worden wäre.

Der Schutzengel

Meho Senderovic läuft mit den anderen rund 10.000 Menschen durch die Wälder. Er läuft im letzten Viertel der Kolonne mit. „Es war der dritte Tag, da hatte ich einen solchen Hunger und suchte im Wald nach irgendwas zu essen. Ich fand auf dem Boden Pilze und aß sie. Danach war ich weg“. Meho ist durch die Pilze vergiftet worden und fiel ins Koma. Flüchtende finden ihn auf dem Boden und versuchen ihn aufzuwecken, doch vergebens. Sie haben gedacht, dass Meho tot ist und überdeckten ihn mit Blättern. Zwei Tage später wacht er aus seinem Koma wieder auf. Ohne Orientierung läuft der damals 28-Jährige durch die Wälder. Im Wald findet er eine Jacke von einem gefallenen Soldaten der bosnischen Serben und zieht sie an. Auf einmal sieht Meho eine Stadt, in voller Hoffnung, dass es Tuzla ist stellt er fest, dass es Olovo ist. Eine Stadt, die von Mladics Truppen eingenommen wurde. „Sie taten mir nichts, weil sie wegen der Jacke dachten, dass ich einer von ihnen sei.“ Wochen später und über viele Umwege findet er den Weg durch die Wälder in Richtung Tuzla wieder. Dort angekommen erfährt er, dass die Flüchtenden, mit denen er unterwegs war, alle ums Leben gekommen waren. „Erst dann realisierte ich, wie viel Glück ich hatte. Hätten diese Pilze mich nicht vergiftet, wäre ich heute wahrscheinlich tot“. Meho hatte Glück im Unglück. Sechs Tage dauerte der Marsch von Srebrenica nach Tuzla, doch nicht für ihn, der erst nach 75 Tagen in Tuzla angekommen ist. Er hat überlebt. 

Von Ammar Nukic
Veröffentlicht am 28.11.2017