Warum die Arbeit mit Behinderung kein Handicap ist

Andrea Scholz zusammen mit einer ihrer Mitarbeiterinnen vor dem Logo des Bahnsteig 42. Foto: Sebastian May
Das innere des Bistros. Foto: Sebastian May

ISERLOHN-LETMATHE. Das Projekt "Bahnsteig 42" in Iserlohn-Letmathe gibt Menschen mit einer Behinderung die Chance, zusammen mit Menschen ohne Behinderung zu kellnern und zu kochen. Die leitende Angestellte und Mitarbeiterin des Dia-Services Andrea Scholz ist bei diesem Projekt für die operative Arbeit im Bistro zuständig. Was ihre Motivation ist und warum sie diesen Job als ihren Traumjob bezeichnet, lest ihr hier.

Lautes Motorrauschen, grell quietschende Bremsen, eine metallisch klingende Männerstimme. Ein rotfarbiger Regionalzug fährt an das frisch modernisierte Gleis des Letmather Bahnhofs. Einige wenige Passagiere steigen aus, einige wenige Passagiere steigen hinzu. Der Zug verschwindet so schnell, wie er gekommen war. Die übrig gebliebenen, ausgestiegenen Personen gehen unbeeindruckt das Gleis entlang. Manche schauen sich um und sehen einen kleinen Laden, der direkt am Gleis liegt: „Bahnsteig 42“.

 Andrea Scholz, Anfang 50, blonde lockige Haare, rauchige Stimme, ist leitende Angestellte dieses kleinen Bistros. Doch Bahnsteig 42 ist nicht nur ein einfaches, kleines Bahnhofsbistro, sondern mehr. Es ist ein soziales Projekt der Iserlohner Werkstätten in Kooperation mit dem Dia-Service der Diakonie Mark-Ruhr, in denen Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen arbeiten. „Wir sagen, wir arbeiten hier mit Menschen mit Handicap“, erklärt Andrea Scholz. Es geht darum den Menschen eine Chance zu geben, ein, den Umständen entsprechend, normales Leben zu führen. Früher mal leitete Andrea Scholz eine alte urige Kneipe in Hagen. Das „Gottfried von Eilpe“ hatte immer für jeden die Tür auf. Stets hatte sie ein offenes Ohr, wenn morgens um zehn Uhr angeschlagene Menschen bei ihr an der Theke saßen und nach dem dritten Bier fragten. „Ich denke, ich war schon so eine Art Streetworker am Tresen“, beschreibt sie ihre damalige Tätigkeit.

 Dabei half ihr, dass sie Soziale Arbeit in Dortmund studierte. Die Mischung aus Nachtleben, welches für sie auch nicht zu kurz kam, und Sozialarbeit führte sie dann zu ihrer Kneipe. All das, so sagt sie, half ihr sich in ihrer Tätigkeit im Bahnsteig 42 zurecht zu finden. Der Umgang mit Menschen aller Art lag ihr schon immer sehr am Herzen. So sehen das auch die Menschen, die in dem Letmather Bistro arbeiten. „Sie ist zwar manchmal streng, aber auch irgendwie nett und verrückt. Ihre Art steckt uns einfach alle an“, beschreibt Mirzada Badesha, 27 Jahre aus Altena. Sie arbeitet seit zwei Jahren im Bahnsteig 42 und hat ein Handicap. Vorher hat sie in den Iserlohner Werkstätten gearbeitet und kam so zu ihrem „Traumjob“ im Bistro.

 „Wir wollen gar nicht diesen Mitleidsbonus“

 „Ich regiere hier mit strenger, eiserner Hand“, antwortet Andrea Scholz mit lachender, ironischer Stimme. „Man muss zwar manchmal ein paar Sachen häufiger erklären oder es dauert mal länger, aber im Grunde machen sie genau das Gleiche, wie alle anderen auch.“ Im Bahnsteig 42 arbeiten aber nicht nur Menschen mit Handicap. Insgesamt arbeiten acht Personen vom Service der Diakonie, worunter auch Andrea Scholz zu zählen ist, drei Redakteure von den Iserlohner Werkstätten, die zusammen viermal im Jahr ein Magazin namens „caput.“ herausbringen, das interessante Einblicke in ein Leben mit Behinderung gibt, sowie weitere 16 Menschen mit Handicap.

 Doch ihr ist es wichtig, dass die arbeitenden Menschen mit Handicap normal wie jeder andere behandelt werden. „Wir wollen gar nicht diesen Mitleidsbonus. Ich finde es immer so schade, wenn die Leute Trinkgeld geben und sagen: ´Hier ein Zehner für die Armen.´ Das wollen wir gar nicht“, erklärt Andrea Scholz. „Wir wollen gerne Zehner. Aber dann so, dass man sagt, wir sind super bedient worden, super Qualität, toll. Das ist ja von den Leuten gar nicht böse gemeint, aber das ist halt in den Köpfen der Menschen so drin.“ Vielleicht ist gerade das einer der Gründe warum das Bistro so gut besucht ist. Der Name Bahnsteig 42 hat sich in ein beliebtes Bistro gewandelt und ist regional weit bekannt.

Die Person dahinter

Mitleid wünschte sie sich auch noch nie in ihrem privaten Leben. Sie ist selbst Mutter eines mittlerweile erwachsenen Sohnes mit Handicap. Bevor sie dann ihr Glück mit ihrem heutigen Ehepartner fand, war sie lange Jahre auf sich alleine gestellt. Sie war alleinig für den Lebensunterhalt zuständig und musste immer die besten Möglichkeiten für ihren Sohn wählen. Da blieb für Mitleid kein Platz. Das alles formte sie so, wie sie heute ist und führte dazu, dass sie sich in diesem Bereich heute besonders engagiert.

 Bahnsteig 42 dient mittlerweile nicht mehr nur als reines Bistro, sondern ist auch immer häufiger Veranstaltungsort. Komiker, Musiker und Autoren berichten von ihrem Leben mit Handicap und verarbeiten Erlebtes auf künstlerische Art und Weise. Immer mit dabei: das Team des Bistros.

Die Passagiere, die die Züge am Bahnhof Letmathe verlassen, das Gleis entlanggehen und vor dem Bahnsteig 42 stehen bleiben, erleben ein motiviertes, menschliches, zuvorkommendes Team. Egal ob mit oder ohne Handicap.

Von Sebastian May
Veröffentlicht am 10.12.2017