Sie sind mittendrin statt nur dabei

Konventionen wie Händeschütteln lernt Leonie mit Hilfe ihrer Heilpädagogin. Foto: Célina Pehlke

ISERLOHN. Gesetz gegen Rahmenbedingungen. Und Rahmenbedingungen gegen den eigentlichen Willen zu helfen. Ein Kreislauf, der die Umsetzung der Inklusion nicht vereinfacht. Es ist ein Streitthema, das die Facetten der Realität überschattet. Eine Reportage zum Thema Inklusion im Kindergarten:

Es ist normal, dass sie die anderen nicht hören kann. Es ist normal, dass sie beim Singen auf dem Schoß der Erzieherin sitzt, um die Vibrationen am Brustkorb zu spüren. Es ist auch normal, dass ihre Freunde Symbole tragen, da sie ihre Namen weder hören noch sprechen kann.

Leonie* ist vier und geht in eine normale Kindertagesstätte. Sie ist gehörlos und hat leichte spastische Lähmungen an den Füßen. Trotzdem erlebt sie den Alltag in der Einrichtung mit 65 Kindern, als wäre sie wie alle anderen. Und das ist sie auch, dank der Inklusion. 

Weniger Sinne, gleiche Freude

Es ist wie jeden Morgen in der Einrichtung des Evangelischen Kirchenkreises Iserlohn. Auf dem Bauteppich sammeln sich die Kinder der Feldmausgruppe* zum Begrüßungskreis. Mit leuchtenden Augen aber vorsichtiger Haltung geht Leonie auf ihre Erzieherin zu. Es ist wie jeden Morgen, wenn sie singen. Sie sitzt auf dem Schoß und legt ihre Hand auf den Brustkorb ihrer Gehilfin. Die Resonanz lässt sie an der Stimmung teilhaben.

Es wird das Lied „Guten Morgen“ angestimmt, in dem jeder namentlich begrüßt wird. „Sie kennt keine Namen, da sie diese weder hören noch sprechen kann“, so Frauke S.*, die Erzieherin und Leitung der Kita. ,,Deswegen trägt jedes Kind ein Symbol, welches zum Charakter passt, wie eine Brille oder blonde Haare.“ Emil* liebt Schnecken. Daher trägt Emil eine Schnecke auf seiner Karte und hebt sie stolz in die Höhe, als er an der Reihe ist.

Es sind Kleinigkeiten, die für alle so selbstverständlich sind, wie die Tatsache, dass Leonie überhaupt da ist. Nach fünfzehn Jahren der Integration ist nun der Schritt zur Inklusion gemacht. Die UN Konventionen sind in Kraft getreten. In Deutschland ist es seit 2013 Gesetz. Kinder mit Behinderungen sollen nicht länger in ein bestehendes System eingepasst, sondern als Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden.

Mit der herrschenden Gewohnheit möglichst gleiche Lerngruppen zu bilden, muss sich dieses Vorhaben jetzt auseinandersetzten. Sondereinrichtungen und additive Kindergärten werden somit immer öfter von Regeleinrichtungen ersetzt. Dafür kommt jetzt der normale Alltag.

Normalität muss gelehrt werden

Mit neun Erzieherinnen gibt es in der Kindertagesstätte drei Gruppen. Davon sind zwei für die ganz Kleinen, die nicht mal drei Jahre alt sind.

Unter 65 Kindern gibt es vier Kinder mit Behinderungen, darunter ein Kind mit Downsyndom, eins mit Sotos-Syndrom, einen Autisten, eine Gehörlose.

Und von neun Erzieherinnen gibt es eine Fachkraft für Inklusion,  welche die betroffenen Kinder persönlich betreut. 

„Das wir eine Fachkraft für Inklusion haben, ist überhaupt die Voraussetzung dafür, dass Leonie und die anderen hier sind“, so eine Erzieherin der Feldmausgruppe. Natürlich ginge es darum, die Normalität beizubehalten. Doch das sei nur möglich, solange jemand das Ungewohnte entsprechend gewohnt macht. Aspekte wie Pflege, Sicherheit und Verständigung gehören genauso dazu, wie der Spaß.

Neben der persönlichen Obhut erhält Leonie einmal pro Woche eine spezielle Frühförderung für Gehörlose. Für eine Stunde kommt eine Heilpädagogin aus Bochum in die Kita. An manchen Tagen geht sie in die Gruppe und übt mit allen Stück für Stück Gebärdensprache. Dann wiederum nimmt sie Leonie mit in die Turnhalle und gestaltet eine Einzeltherapie. Durch die fehlenden Sinne entstehen Lücken zum Verständnis von einfachen Konventionen. Hände schütteln. Begrüßen. Augenkontakt. Das wird jetzt im Rollenspiel geübt. Leonie wird zur Verkäuferin im Tante Emma Laden oder zur Gastgeberin an der Tür, die ihre Gäste willkommen heißt. Willkommen im Leben.

Herausforderungen gegen Rahmenbedingungen

Nach überwiegenden Erfahrungen mit Entwicklungsverzögerungen kam in diesem Sommer eine neue Situation auf die Erzieherinnen und Kinder zu. Sven* besucht seit dem 1. August ebenso die Kindertagesstätte. Mit einer starken körperlichen Behinderung wird es noch mal anders, die Inklusion umzusetzen. Er kann weder sitzen, stehen noch laufen.

Seine Eltern entschieden sich für eine Regeleinrichtung, da es ihnen wichtig ist, ihn zusammen mit seinem Bruder in den Kindergarten gehen zu lassen. „Für uns ist es das Schönste zu sehen, dass es ein Konzept gibt, in dem beide die gleichen Chancen auf Bildung haben“, so die Mutter des unter drei Jährigen. Was sich zu Zeiten der Inklusion einfach anhört, ist in der Praxis jedoch noch lange nicht so umgesetzt.

Lediglich ein Ideal? 

„Die Eltern kamen zu uns und hatten bereits mehrere Absagen erhalten, da andere Einrichtungen Sven nicht aufnehmen wollten“, erklärt die Leitung. „Wir haben die Herausforderung angenommen, da wir nicht bei der ersten schwierigen Situation kneifen wollten.“ So wird die Inklusion also angenommen? Die Reaktion der Anderen trifft bei ihr nicht unbedingt auf Akzeptanz, aber auf Verständnis: Es stünde oft ein erheblicher pädagogischer Mehraufwand gegen unveränderte Rahmenbedingungen. „Für mich als Leitung heißt das, dass ich die Inklusion nur so weit durchführen kann, wie es die Rahmenbedingungen zulassen“, wobei sich Frauke S. sowohl auf die Verantwortung gegenüber den Kindern, als auch der gegenüber den Erzieherinnen bezieht. Sie wiegt ab,  inwieweit die Ansprüche erfüllt werden können. Als Hilfe für diese Aufgabe habe der Evangelische Kirchenkreis eine Fachberatung für Integration und Inklusive eingerichtet.

„Fakt ist, die Kinder haben einfach nur ein Handicap, aber das hat jeder von uns in irgendeiner Form. Bei den einen ist es nur offensichtlicher und es wird Behinderung genannt, bei anderen nicht.“ 

Bei Sven wird für die Erzieherinnen besonders der körperliche Aufwand dazukommen, da er ständig getragen werden muss. Seine Prognose ist unklar. Ob er jemals laufen wird, weiß niemand. Ob er die nächsten vier Jahre durch den Kindergarten getragen wird, weiß niemand.

Vielleicht kauft er bald bei Leonie im Tante Emma Laden ein. Denn sie gehören beide mit dazu. Sie sind mittendrin statt nur dabei.

 

*Namen von der Redaktion geändert

Von Célina Pehlke
Veröffentlicht am 22.10.2014