Über Schönheitsideale und dessen Konsequenzen

Lasst doch bitte euren Körper in Ruhe

Essstörungen bei Schwangeren werden immer häufiger. Quelle: Pixabay

Selbst in der Schwangerschaft stehen Frauen immer mehr unter Druck, fit und schlank sein zu müssen. Das trübt nicht nur die Freude auf das Kind, sondern ist für Mutter und Kind sehr gefährlich: Essstörungen unter Schwangeren werden immer häufiger. Ein Kommentar

Neuerdings erwartet die Gesellschaft in den Massenmedien auch von Schwangeren, dass sie sich allen möglichen Schönheitsidealen unterwerfen. Das ist nicht nur absurd, sondern äußerst Besorgnis erregend. Längst gibt es Schönheitsideale für Frauen während der Schwangerschaft. Eine kleine Kugel bekommen: okay. Selbst eine Kugel werden: eher nicht so.

Erst im vergangenen Jahr haben sich sieben Wissenschaftlerinnen, darunter einige, die selbst auch Mütter sind, an das Thema herangetraut: Das Ergebnis der Studie vom Institut für Kindergesundheit und der psychiatrischen Abteilung der Universität London war eindeutig. Von den 739 schwangeren Probandinnen gab jede vierte an, große Angst vor einer Gewichtszunahme und der Veränderung ihrer Körperform zu haben. Jede zehnte Probandin zeigte bereits Verhaltensweisen einer Essstörung: Sie hungerte, hatte Fressanfälle, erbrach sich, verwendete Abführmittel oder trieb exzessiv Sport. Und jede 15. Schwangere erfüllte alle Kriterien einer Essstörung. 

Selbstdarstellung und Schönheitsideale

Viele Unzufriedenheiten der Frauen hängen mit dem öffentlichen Bild der schwangeren Frau zusammen. Meine Frauenärztin erzählt, dass eine Schwangerschaft heute sehr viel öffentlicher und weniger schamhaft sei. Frauen tragen enge Kleidung, zeigen ihren Bauch. Zumindest ist das in den Massenmedien so. „Unschwanger aussehen“ ist auch das Stichwort für die Zeit danach: Rückbildungskurse heißen inzwischen „Fit und schlank nach der Geburt“. Harmlose Familienzeitschriften rechnen vor, wie viel Kilo eine Frau durch die Geburt verlieren kann: 3,3 Kilo wiegt etwa das Baby, etwa 500 Gramm wird man los, sobald die Plazenta raus ist, Fruchtwasser und Blut machen zusammen knapp zwei Kilo aus. Und - superpraktisch - einen Teil der Wassereinlagerungen schwitzt die Frau außerdem beim Gebären aus. Da wird das Pressen zum ersten Work-out.

Der Blick in den Spiegel ist für viele Schwangere eine Qual. Zwanghaft fällt der Blick auf die Makel und sie hassen sich und ihren Körper wegen ihrer Unvollkommenheit. Es zählt als Kompliment, wenn eine werdende Mutter gesagt bekommt, dass ihr die Schwangerschaft von hinten nicht angesehen wird. Ihre Messlatte sind gängige Schönheitsideale, zu denen Makellosigkeit und Vollkommenheit gehören. Die Vergänglichkeit und das Nichtperfekte haben hier keinen Platz. In unserer Gesellschaft tragen Modeschöpfer, Werbefachleute, Diätpillenhersteller, Kosmetikfirmen und Stars zu Schönheitsidealen bei - und verdienen damit prächtig.

Virtuelle Schönheitsideale machen krank

Das gewohnte Bild ist ein anderes: Heidi Klum modelte nur fünf Wochen nach der Geburt schon wieder in Unterwäsche. Designerin Victoria Beckham trug eine Woche danach wieder Größe 34. Diese Bilder erzeugen bei vielen Frauen unrealistische Erwartungen an ihren Körper. Aber wie das geht? Ärzte erzählen in verschiedenen Interviews zu dem Thema, dass sie davon ausgehen, dass das nur möglich ist, weil viele Prominente ihre Kinder einige Wochen vor dem errechneten Termin per Kaiserschnitt holen lassen. Wer sich die letzten fünf Wochen spart, spart sich gleich einige Kilos. Aber sind das unsere Schönheitsideale, zu denen Makellosigkeit und Vollkommenheit gehören? Wo Vergänglichkeit und das Nichtperfekte keinen Platz haben? Wie absurd und krankhaft sind wir Menschen geworden? Die Gesundheit sollte immer an erster Stelle stehen und wir jagen diesen Idealen hinterher. Eine dünne Schwangere zu sein ist unmöglich. Trotzdem ist das, das erklärte Ziel.

Ich habe das Gefühl bekommen, dass die Frauen eine Schwangerschaft gar nicht mehr schätzen. Nicht nur wegen des Schönheitsideals im Netz, sondern auch, weil alle Menschen, nicht nur Frauen, sich davor fürchten, die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren. Die Selbstliebe zum eigenen Körper ist seltener geworden. Sport, Ernährung, Sex - alles dient bloß noch dem Zweck der Selbstoptimierung oder Selbstbestätigung. Und diese körperliche Belastung wird zur psychischen Belastung, wenn „unschwanger aussehen“ das neue Maß ist.

Von Michelle Reichelt
Veröffentlicht am 11.11.2020

Michelle Reichelt

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