„Das Stigma des Opferseins“

Die Autorinnen waren bei der Lesung sichtlich von den eigenen Erinnerungen ergriffen. Foto: Lisa Schmerer

Menden. „Patentöchter: Im Schatten der RAF – ein Dialog“ heißt das Buch, das Corinna Ponto und Julia Albrecht geschrieben haben. Bei einer Lesung im Alten Ratssaal in Menden berichten sie, wie sie den Anschlag auf Jürgen Ponto und die Zeit danach in Erinnerung haben – Corinna Ponto als die Tochter des Ermordeten und Julia Albrecht als die Schwester der RAF-Terroristin Susanne Albrecht.

Eine Lesung. Die Eintrittskarte, rot. Das Thema, dunkelrot: RAF. Die Tochter eines Ermordeten und die Schwester einer Terroristin führen einen Dialog. Am Mittwoch ließen sie interessierte Menschen im Alten Ratssaal an ihrer Geschichte teilhaben. Zur Lesung von Corinna Pontos und Julia Albrechts Buch „Patentöchter: Im Schatten der RAF – ein Dialog“ hatte die Buchhandlung Daub eingeladen. Die Zuhörer waren überwiegend selber Zeitzeugen der RAF, doch waren auch einige junge Menschen – meist mit  ihren Eltern – gekommen, um der Geschichte der beiden Frauen zu lauschen.

Die tragische Geschichte zweier Familien

Am 30. Juli 1977 wurde Jürgen Ponto, Vorstandsvorsitzender der Dresdner Bank, in seinem Haus in Frankfurt von zwei RAF-Terroristen erschossen. Dank der dritten Terroristin, Susanne Albrecht, gab es für sie kein Problem ins Haus gelassen zu werden, schließlich war sie die Tochter eines langjährigen Familienfreundes. Und das Treffen, das als nettes Beisammensein bei Tee und Kuchen gedacht war, endete mit der Trauer und der Verzweiflung zweier Familien.

In ihrem Buch erzählen die beiden Angehörigen, was der Anschlag in ihnen ausgelöst hat und wie sie mit dem schrecklichen Schmerz leben mussten. Die damals 13-jährige Julia Albrecht verstand die Welt nicht mehr, als plötzlich jeder ihre Schwester als Verräterin und Mörderin bezeichnete. In ihrer kindlichen Verzweiflung suchte sie einen Teil der Schuld bei ihren Eltern, konnte die geliebte große Schwester doch nicht von alleine auf moralische Abwege geraten sein. Erst als die Terroristin 13 Jahre später in Deutschland vor Gericht stand, und wirre Entschuldigungen für ihre Tat hervorbrachte, verstand auch ihre kleine Schwester: „Susanne war nicht aus Versehen oder irgendwie RAF. Susanne war RAF.“  

Corinna Ponto, die zum Zeitpunkt des Anschlags 19 Jahre alt war, ging mit ihrer Familie in die USA. In einem Land so fern von Deutschland, wo niemand ihre Sprache sprach, konnte sie auch niemand in Verbindung mit diesem Unglück bringen. So entgingen sie dem „immer Tochter des Ermordeten sein“, dem „immer nur die Schwester sein“, dem „Stigma des Opferseins“.

Wie aus einem Brief ein Buch wurde   

30 Jahre nach dem Attentat auf Jürgen Ponto schrieb Julia Albrecht Corinna Ponto einen Brief. „Der Brief hat mich [Corinna Ponto] aufgeregt, und gleichzeitig war Frieden um diesen Brief.“ Nach mehreren Treffen und regem Briefverkehr wurde langsam die Idee geboren, gemeinsam ein Buch zu schreiben. Vor allem durch ihre Zeit in den USA  wurde Corinna Ponto dazu inspiriert. Sie ist der Meinung, dass in Deutschland solche terroristischen Anschläge zu rational behandelt werden und die Opfer kaum Beachtung bekämen. Anders als in Amerika, wo zum Beispiel den Opfern des Anschlages auf das World Trade Center oft und auf vielen Arten gedacht wird.

Das Buch soll helfen den Opfern eine Stimme zu geben, sie besser zu verstehen. Außerdem soll dieser Teil der deutschen Geschichte auch für Jugendliche, die die RAF nicht direkt miterlebt haben, verständlich sein, Hand und Fuß bekommen. Hand und Fuß und Herz. Denn nichts macht die Geschichte greifbarer als die Erzählungen von denen, die es hautnah erlebt haben. 

Stille Gespanntheit und ehrfürchtige Anteilnahme

Während die beiden Autorinnen abwechselnd von den schlimmsten, traurigsten und kraftlosesten Tagen und Stunden ihres Lebens erzählten, war es im Alten Ratssaal in Menden ganz still. Nicht nur die Lesenden waren von ihrer Geschichte bewegt, auch die Hörer waren sehr berührt. Vor allem, als sie die Chance bekamen, Corinna Ponto und Julia Albrecht Fragen zu stellen. Sie zeigten ihre Ergriffenheit und ihren Respekt für zwei Frauen, die es geschafft haben, die intimsten Erinnerungen mit ihnen zu teilen und die schlimme Zeit noch einmal zu erleben.

Eine Lesung. Die Eintrittskarte, rot. Das Thema, dunkelrot. Dunkelrot vom Blut, von der Scham und dem Verrat. Aber auch dunkelrot von den Banden der beiden Familien, von der Freundschaft. Von Blutsschwestern, verbunden durch das gemeinsame Schicksal.

Von Lisa Schmerer

Veröffentlicht am 08.04.2011