Strukturvertriebe: Armani statt Ausbildung

Dolce Vita mit wenig Aufwand? Auch viele Studenten lassen sich blenden, wenn es um das schnelle Geld geht. Foto: Wolfgang André Schmitz

Hagen. Einige Semester liegen noch vor ihnen; ein festes Einkommen lässt auf sich warten: So erliegen auch Studenten immer wieder den Lockrufen des schnellen Reichtums - und geraten in die Fänge von Strukturvertrieben.

Bei der Anfahrt klingen die Worte von Dennis*, einem früheren Schulfreund, in den Ohren. "Ich hab mich selbstständig gemacht und suche noch gute Leute für meine Firma! Wenn du ein bisschen Zeit mitbringst und einen gut bezahlten Nebenjob willst…" Ein kleiner Aufkleber mit dem Namen eines nur mäßig bekannten Finanzdienstleisters weist an der Tür eines Wohnblocks nahe der Hagener Innenstadt auf die gesuchten Mieter hin. Tür auf, Bühne frei: Ein junger und ein noch viel jüngerer Verkaufsberater in weiten Anzügen heißen willkommen - willkommen im Strukturvertrieb.

Sauber, mit grauer Auslegeware, weißen Wänden und leeren Tischen und Regalen präsentieren sich die Büroräume. Blickfang auf einem Aktenschrank sind sorgsam aufgestellte, leere Flaschen, in denen sich einst kostspielige Spirituosen befanden. Trotz Teppichbodens erzeugen selbst zaghafte Schritte ein leichtes Echo. Im Plauderton und mit gelockertem Krawattenknoten laden Dennis Stohl* und Filialleiter Michael Pelka* ein, auf einem grauen Bürostuhl Platz zu nehmen.

"Coolen Wagen hast du", sagt Michael Pelka, "den hatte ich auch mal. Mit ein bisschen Chiptuning geht der richtig ab." Auch nachdem die Neuvorstellungen von BMW, Porsche und Co besprochen und die Vorlieben in der Hagener Kneipenwirtschaft verglichen sind, ist Pelka um Komplimente nicht verlegen. "Bist du immer so gut gekleidet? Dennis musste sich erst mal 'nen Anzug kaufen, als er hier eingestiegen ist." Dennis lächelt verlegen: "Auf mein erstes Armani-Outfit spar' ich noch." Gelächter. Locker und konsumfreudig scheint es zuzugehen in der Welt der Strukturvertriebe…

Der schnelle Weg zum Anzugträger

Seit rund 50 Jahren setzen einige Unternehmen auf den Strukturvertrieb als Distributionsform - und bieten von runden Diätpillen für den allzu runden Feinschmecker über Parfüms für Damen mit geschäftlich schlechtem Riecher bis hin zu Versicherungen für den verunsicherten Rentner alles an. Eine weit verbreitete Form des Strukturvertriebs ist das Network Marketing: Ein streng hierarchisch organisiertes, nach unten hin weit verästeltes Netzwerk aus selbstverantwortlichen Verkäufern versucht, Produkte aus der meist überschaubaren Palette des Dachunternehmens an den Mann zu bringen. Dass viele der Produkte dem Wettbewerb mit vergleichbaren Angeboten kaum standhalten, merken die Kunden oft erst nach dem Kauf.

Noch haben Dennis Stohl und Michael Pelka nicht erläutert, welche Finanzdienstleistung sie verkaufen. "Zu welchem Stundenlohn würdest du für uns arbeiten?" 25 Euro aufwärts sollten es schon sein. "Ich seh' schon, du bist selbstbewusst! Das gefällt mir - solche Leute brauche ich." Mittlerweile hat sich die leere Schreibtischplatte um einen Laptop, ein weißes Blatt Papier und einen metallenen Kugelschreiber gefüllt. Mit Zahlen und Pfeilen will Pelka in der Gehaltsfrage Transparenz schaffen.

"Wenn du zehn Stunden die Woche für mich arbeitest, kannst du von Anfang an 1.200 Euro bei uns verdienen. Zuerst guckst du bei den Verkaufsgesprächen nur zu. Du kriegst dafür aber schon 80 Prozent Provision", erklärt Pelka. Nachdem Dennis Stohl an Anekdoten aus der gemeinsamen Zeit am Gymnasium erinnert hat, erzählt Michael Pelka von den anfänglichen Bedenken eines heutigen Mitarbeiters: "'Ist doch alles scheiße, was ihr da macht. Scheiße, was ihr verkauft.' Jetzt ist er hier und findet es ziemlich geil bei uns."

"In Ratings ganz vorne"

Im Network Marketing wird von Vitaminpräparaten bis hin zu Finanzdienstleistungen nahezu alles von unausgebildeten Strukturvertrieblern, auch "Strukki genannt", beworben - auf der Jagd nach dem Verkaufserfolg, dem schnellen Weg ins Erwerbsleben oder des Nebenverdienstes. Rhetorisches Talent, gute Zeugnisse und Fachkompetenz in der Branche sind auf dem Weg in den Strukturvertrieb nicht hinderlich, aber eine Seltenheit. Ausgebildet wird auf kurzen Schulungen des Dachunternehmens, die Verkaufsgespräche für das jeweilige Produkt trainieren - und das Anwerben neuer Mitarbeiter. Nur wer möglichst viele Mitstreiter anwirbt, an dessen Provisionen er mitverdient, steigt in der Hierarchieleiter nach oben.

"Cooles Auto, schicke Klamotten - bist du auch so geldgeil wie wir?" Michael Pelka setzt auf das in Strukturvertrieben proklamierte Wir-Gefühl. Dennis Stohl ergänzt: "Muss man doch heutzutage sein." Pelka und Stohl lachen - und kommen zum Thema: Mit Fußball-Vergleichen präsentiert Pelka seine Produktpalette. "In den Ratings sind wir damit ganz vorne." Besagte Ratings kann er doch bestimmt einmal vorlegen. "Hole ich dir. Moment." Eine Tasse Kaffee später kommt er zurück. "Ich versteh nicht, wo ich die hingelegt habe." Auf erneutes Nachfragen begibt er sich auf Google-Suche. Nach dem Versuch, eine Tabelle der Bundesanstalt für Finanzaufsicht als Rating zu präsentieren, sucht er weiter. Ergebnisse à la "geprellte-strukkis.de" tauchen auf - und werden schnell vom Bildschirm gescrollt.

Sturz von der Ja-Treppe

Vor allem zu Beginn einer Karriere im Strukturvertrieb ist ein großer Bekanntenkreis weit wichtiger als Verkaufstalent und Kompetenz. Motiviert durch erste Verkaufserfolge bei Verwandten und Nachbarn scheint das große Geld in Reichweite. Nach einigen Monaten leert sich der Terminkalender: Der "Markt" ist gesättigt, alle Bekannten sind versorgt. Das Einkommen bricht ein - ebenso wie das private Netzwerk: Verärgert über das Ausnutzen einer sozialen Beziehung werden Freundschaften von den "Kunden" ebenso gekündigt wie der Verkaufsvertrag. Kein Wunder, denn an die Stelle seriöser Bedarfsanalysen waren einfache psychologische Verkaufstricks wie die "Ja-Treppe" getreten.

Zum finanziellen Erfolg des Strukturvertriebs hat aber auch mit wenigen Vertragsabschlüssen schon beigetragen, wer bereits nach wenigen Monaten gescheitert ist. "Wenn man sein Gewissen ablegt und skrupellos ist, kann man es jahrelang durchziehen", berichten in Internetforen die Ex-Mitarbeiter, die sich oftmals einige Hierarchiestufen höher bei der Unterhaltung der ersten eigenen Filiale verschuldet haben.

Mittlerweile hat Michael Pelka die Rating-Suche aufgegeben. "Interessierst du dich für Fußball?"

* Namen geändert

von Wolfgang André Schmitz

Veröffentlicht am 02.02.2010