Portrait

Unterwegs in Unterhemd und kurzer Hose

Von Iserlohn bis nach Finnland: Mit seinem Drahtesel hat Jürgen Kalf schon tausende von Kilometer zurückgelegt. Foto: privat
So etwas bekommt man nur zu sehen, wenn man auch einmal abseits der Wege fährt. Foto: Jürgen Kalf
Sein Essen sammelt sich der Radfahrer auch schon einmal selbst in der Natur zusammen. Foto: privat
Auch für die Einheimischen ist es immer spannend, wenn ein Radfahrer aus Deutschland auftaucht – hier mit Inuit-Kindern in Grönland. Foto: privat
Kochtöpfe, Geschirr, Besteck, Kleidung, Verbandszeug, Schlafsack und Zelt: Gepäck für Monate muss in die Fahrradtaschen passen. Die können schon einmal an die 100 Kilogramm wiegen. Foto: privat
Nordlichter in Grönland. Foto: Jürgen Kalf
Diese Abgeschiedenheit wie in Grönland sucht Jürgen Kalf auf seinen Radreisen. Foto: Jürgen Kalf
Auf seinem Weg trifft er auch tierische Begleiter. Foto: Jürgen Kalf
Die vielseitige Flora Grönlands hat es dem Hobbysportler angetan. Foto: Jürgen Kalf
Auf seiner Radtour über das Sierra Nevada-Gebirge in Spanien hätte er vor lauter Nebel fast die Orientierung verloren und hätte erfrieren können. Foto: privat
Irland: Solche idyllischen Radwege fährt er am liebsten. Foto: Jürgen Kalf
Ein Markttag in Jersualem. Foto: Jürgen Kalf
Die natürlichste und günstigste Übernachtungsmöglichkeit: Zelten. Foto: privat

ISERLOHN-LETMATHE. Wenn er mal nicht auf seinen abenteuerlichen Radtouren unterwegs ist, sitzt Jürgen Kalf mit einem Cappuccino in seiner Iserlohner Stamm-Eisdiele „San Remo“ am Dicken Turm und beobachtet die Menschen. Denn hinter dem Extremhobbysportler verbirgt sich ein unbekümmerter Genießer, der durch seine Reisen seine Zeit, die Natur und vor allem sich selbst zu schätzen lernte.

Mit seinen 1,72 Metern ist er kein Riese, seine Statur ist schlank und drahtig. Auf dem Kopf trägt er eine Mütze — ähnlich einer Kippa — und auch im Winter kurze Hosen. Sitzt er nicht auf seinem Fahrrad, läuft er am liebsten barfuß, „um die Erde spüren zu können”. Er trinkt Capuccino und auch gerne einen Wein, doch am liebsten seine Milch — vollmundig und mit fünf Prozent Fettgehalt. Das ist Jürgen Kalf.

Der 71-Jährige hat in den letzten 30 Jahren die Welt vom Sauerland aus mit dem Fahrrad erkundet. Über hunderttausend Kilometer, alleine, ohne Elektroantrieb und nur mit dem Nötigsten im Gepäck. „Immer, wenn Leute fragen, wie es mir geht, kann ich nur antworten: 'Wunderbar, denn ich besitze das wohl wertvollste Kapital, das ein Mensch aus meiner Sicht nur haben kann — das der Freiheit, der Gesundheit und der Zeit'.”

Haus und Auto im Tausch gegen die Freiheit

„40 Jahre lang war ich selbstständiger Blumenhändler in Altena." Zuerst reiste er nur in seiner freien Zeit, „doch dann wollte ich mich befreien von allem, was mich einengte und abhängig machte: dem Haus, dem Auto, dem Gewerbe. Um endlich frei zu sein.” Seine zwei Töchter waren erwachsen und er schon lange geschieden, darum verkaufte er 2013 kurzerhand alles.

Nun wohnt der dreifache Opa in Letmathe, in einer kleinen Wohnung mit Ausblick. Jeden Quadratzentimeter der Wände hat er mit Bildern seiner Radreisen geschmückt und auf der großen Fensterbank tummeln sich Pflanzen, einige Orchideen, doch hauptsächlich Kakteen und Steingewächse, die auch lange ohne Wasser auskommen. Denn er ist oft ein halbes Jahr lang mit seinem Drahtesel unterwegs, um die Sitten und Kulturen fremder Länder kennenzulernen, sie zu analysieren und in sich aufzunehmen.

Island war die bisher schönste Reise

Seine Reisen führten ihn durch Länder wie Marokko, Israel, die Türkei, Frankreich, Spanien, Rumänien, Bulgarien, Irland, Jersey oder auch Syrien und Ägypten. Alles von seiner Heimat dem Sauerland aus. Island hat ihm bisher am besten gefallen. „Island ist das Abenteuer pur. Die Natur ist einfach gigantisch, unberührt und so ursprünglich. Dort im Hochland findet ein Radfahrer nicht nur wettermäßig das Extreme vom Extremen, null Stress und die absolute Ruhe”, schwärmt Jürgen Kalf.

Als ehemaliger Florist faszinieren ihn die unterschiedlichen Floren. Besonders beeindruckt haben ihn die Naturparks, tausend Seen und die immergrünen Wälder Finnlands und das Schärenmeer. „Die finnische Natur gibt dir alles, was du zum Leben brauchst: Beeren, Preiselbeeren und Pilze. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, dich von der Natur zu ernähren.” Eben diese Ursprünglichkeit und Abgeschiedenheit liebt er und schlägt sein Zelt am liebsten in der Wildnis fernab jeder Zivilisation auf — auch wenn es bedeutet, dass er sich ein paar Tage nur von Waldbeeren ernähren muss, die er sammelt, weil ihm der Proviant ausgegangen ist.

Wenn der Regen auf das Zeltdach prasselt

Mit der Reiseroute und dem Zeitplan nimmt er es locker, solange er nicht an bestimmte Visumsfristen gebunden ist: „Ich weiß ungefähr, wo ich hinwill. Den Rest mache ich nach Lust und Laune.” Auch das Wetter ist für den Hobbyradfahrer zweitrangig: „Ich werde mit jedem Wetter fertig, so wie momentan". 20 Grad, etwas gemischt und bewölkt, das sei super. „In Island war ich dem Wetter mutterseelenalleine ausgeliefert." Das Land sei ja bekannt für sein stürmisches Regenwetter. „Ich habe das Zelt auch bei extremen Sturm aufgebaut. Doch wenn ich dann im Zelt liege und der Regen aufs Zeltdach prasselt, gibt es nichts Schöneres.”

Sein Ehrgeiz hat ihn jedoch schon oft in heikle Situationen versetzt: „Meine erste Reise waren 6300 Kilometer nach Agadir in Marokko, nur mit dem Rucksack, und ohne Zelt. Bei meinem Weg über das Sierra-Nevada-Gebirge bin ich fast erfroren. Ich hatte nur ein Unterhemd und kurze Hosen an, mein Ziel war es, auf den höchsten Punkt bei knapp 3500 Metern zu gelangen. Beim Hochfahren wurde mir warm, beim Runterfahren sind meine Finger fast erfroren, ich war total unterkühlt”, erinnert sich der Extremsportler. Nach einer heißen Hoteldusche sei es aber wieder gegangen.  

Mittellos in Kairo

Er hat schon längst aufgehört zu zählen, wie oft er mittellos dastand, weil er beklaut wurde oder sich verkalkuliert hatte. „Als ich vor 25 Jahren in Kairo war, gab es noch kein diktatorisches System und ich hatte nur Bargeld dabei, also DM. Am Ende hatte ich mit dem Geld verschätzt und nur noch 1000 DM, die ich als Reserve in meinem Schuh versteckt hatte. Der Flug kostete aber 1350 DM. Dann habe ich zum Glück mit gebrochenem Englisch einen Schlipsträger am Flughafen gefunden, der mit mir die Büros abklapperte, bis ich einen verbilligten Flug nach München bekam.” Im Krankenhaus war er bisher auch nur, wenn er mal „mit dem Fahrrad die Böschung runter ist.” Das ist zuletzt in Island passiert, wo er sich auch bei einem Sturz auf das Lavagestein den gesamten Unterschenkel aufriss.

Trotz der Widernisse überwiegen für Jürgen Kalf die positiven Erfahrungen: „Als ich nach Rumänien gefahren bin und nirgendwo zelten konnte, lud mich ein Taxifahrer zu sich nach Hause ein und hat mich in seinem Bett schlafen lassen. So viel Gastfreundschaft und Herzlichkeit habe ich selten erlebt. Die bekommt man aber nur, wenn man alleine reist. Außerdem bin ich Genießer, deswegen dauert es bei mir auch etwas länger. Es bringt nichts, nur Kilometer zu zählen.” Darum ist der 71-Jährige auch am liebsten alleine unterwegs. Wenn Deutsch und Englisch mal nicht ausreichen, verständigt er sich mit Händen und Füßen.

Nächste Ziele: Russland und Skandinavien

Das Smartphone ermöglicht ihm, den Kontakt zu seiner Familie zu halten, als auch der Presse Updates über den Verlauf seiner Reise und seine Aufenthaltsorte zu schicken. Unterwegs besucht er Freunde, deren Bekanntschaft er auf seinen Reisen gemacht hat und bestaunt die Landschaften, so hat er es auch auf seiner nächsten Reise wieder vor. Eigentlich wollte er in den Iran, doch da das Auswärtige Amt riet ihm davon ab. „Dann habe ich mir Bilder von der Strecke angesehen und da steht kein Baum und kein Gebüsch, nur Wüste und Felsen.” Deswegen zieht ihn seine nächste Radreise nun über die Wälder des Balkans und Russlands ins grüne Skandinavien. 

Er möchte auch noch mehr von Deutschland sehen und die Elbe runter nach Tschechien ins Elbsandsteingebirge reisen. „Mein Arzt hat mir allerdings gesagt, ich solle mich beeilen", schmunzelt Jürgen Kalf, „da ich nur noch 40 Jahre zu leben hätte”.

Von Désiree Sophie Schneider
Veröffentlicht am 28.04.2018