„Vor Gericht muss die Wahrheit rauskommen“

Carsten Schreiber hat als Jugendschöffe bereits zahlreiche brisante Fälle verhandelt. Foto: Thorsten Streber

Hemer. Schöffen beschäftigen sich mit traurigen Schicksalen und erschreckenden Taten – freiwillig und ohne Bezahlung. Das Amtsgericht Iserlohn sucht noch bis zum 30. April neue Ehrenamtliche. Ein erfahrener Jugendschöffe berichtet, warum er die Aufgabe trotz allem nur weiterempfehlen kann.

Carsten Schreiber legt die Stirn in Falten und spricht etwas leiser als sonst: „Besonders belastend für mich war der Fall eines jungen Philippinen.“ Während seine Frau hochschwanger im Krankenhaus lag, vergewaltigte er seine 12-jährige Nichte im Ehebett. „Als Motiv hat er angegeben, dass seine Frau seit ein paar Monaten keine Lust mehr auf Sex gehabt hätte.“

Seit 2009 ist Carsten Schreiber Jugendschöffe am Amtsgericht Iserlohn und musste in dieser Zeit unter anderem auch für diesen Täter das richtige Strafmaß finden. „Bei Jugendlichen gilt das Prinzip ‚Prävention vor Strafe‘ – aber natürlich nicht bis zum Erbrechen“, sagt Schreiber. „Wir müssen hinterfragen, was die Täter zu den Verbrechen gebracht hat.“

Noch bis zum 30. April: Jugendschöffen gesucht

Daher sollten Jugendschöffen „erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein“, wie die Stadt Hemer es in einer Pressemitteilung formuliert. Noch bis zum 30. April sucht das Jugendamt neue Ehrenamtliche für diesen Dienst, deren fünfjährige Amtszeit dann von 2014 bis 2018 andauert. Sie werden sich mit kaputten Familien, Drogensucht und grauenhaften Verbrechen beschäftigen müssen. Warum sollte man sich das freiwillig antun?

Carsten Schreiber sieht in seinem Schöffendienst eine „bewusstseinserweiternde Erfahrung“ – und meint das weniger esoterisch, als es womöglich klingt. „Ich bin in der Jugendarbeit engagiert, wo die jungen Leute aus behüteten Elternhäusern stammen“, sagt er – selbst dreifacher Vater. „Mich interessieren auch die Jugendlichen, bei denen es nicht rund läuft.“

Auf die Feinheiten kommt es am Ende an

An seinen ersten Prozess vor gut vier Jahren kann sich Schreiber nur noch etwas mühsam erinnern. Es ging um einen Ladendiebstahl. „Klassische Beschaffungskriminalität“, erklärt er. „Danach war ich ein bisschen enttäuscht, dass das alles so unspektakulär war.“ Vielleicht, so vermutet er heute, gebe man Neulingen aber auch absichtlich erst einmal „eindeutige Fälle“.

Denn in der Zwischenzeit hat er auch schon wirklich brisante Verhandlungen erlebt: Schwere Raubüberfalle, Körperverletzungen, Vergewaltigungen. Schreibers Credo: „Vor Gericht muss die Wahrheit rauskommen.“ Dabei komme es oft auf kleine Feinheiten an. Um die herauszuarbeiten, haben Schöffen vor Gericht auch das Recht und die Pflicht, Fragen zu stellen. In der Urteilsfindung sind sie dem hauptamtlichen Richter ebenfalls gleichgestellt. „Die beiden Schöffen können den Richter damit auch überstimmen“, gibt der Hemeraner Einblicke in den Gerichtsalltag. „In der Regel gibt es aber oft eine Übereinstimmung.“

„Eigene Meinung auch mal runterschlucken“

Mindestens 25 Jahre alt müssen Schöffen sein, doch auch auf eine charakterliche Eignung achten die Gerichte bei der Auswahl der Ehrenamtlichen. „Man braucht eine gewisse innere Entspanntheit“, sagt Schreiber. Denn Schöffen sollten in jeder Situation einen klaren Kopf behalten und die eigene Meinung „auch mal runterschlucken“ können.

Im Vergewaltigungs-Prozess um die 12-Jährige fiel ihm das schwer. Der Angeklagte brach noch im Gerichtssaal zusammen. Seiner Frau hatte er die Tat und den gesamten Prozess bis zum Schluss verschwiegen. „Zwei Jahre Freiheitsstrafe – das konnte er nicht mehr geheim halten“, erzählt der Schöffe. Außerdem fürchtete der Verurteilte nach seiner Haftstrafe die Rache der von ihm „entehrten“ Familie. „Aber kein Mitleid“, sagt Schreiber. „Meine Tochter war damals ungefähr im selben Alter wie das Opfer.“

Thorsten Streber
Veröffentlicht am 21.04.2013