Gudrun Gille

"Was macht Mensch sein aus, wenn ich nicht mehr weiß, wer ich bin?"

Gudrun Gille, Leiterin des Netzwerk Demenz Hemer. Foto: Marie Junga
Vorstand des Vereins. Michael Heilmann (rechts) hat sein Amt jedoch niedergelegt. Quelle: Netzwerk Demenz

HEMER. Es ist eine Krankheit, die viele Menschen betrifft. Demenz hat viele Gesichter, und doch beschäftigen sich Menschen erst damit, wenn sie selbst betroffen sind. Gudrun Gille, Leiterin des Netzwerk Demenz Hemer, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Erkrankten und deren Angehörigen den Umgang mit der Krankheit leichter zu gestalten.

Weltweit leiden mehr als 44 Millionen Menschen an der unheilbaren Krankheit Demenz. Eine Schockdiagnose, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Angehörigen. Die Nachricht verändert das Leben aller. Umso wichtiger ist es, Hilfe zu bekommen und mehr über die neuen Lebensumstände zu lernen.

 Was war die Motivation?

Die ausgebildete Krankenschwester Gudrun Gille ist seit 2011 Erste Vorsitzende des Vereins Netzwerk Demenz Hemer. Die Idee, Menschen mit Demenz zu unterstützen, kam durch ein Schlüsselerlebnis.

Während sie die Pflegerische Leitung in einer Klinik übernahm, die unter anderem neurologische und orthopädische Probleme behandelt, traf sie immer öfter auf ältere Menschen, die in einem sehr verwirrten Zustand waren. Dies ist anfänglich nicht aufgefallen, bis eine 80-jährige Dame so verwirrt war, dass sie nicht mehr wusste, wo sie war oder was sie zu Essen bekommt. „Das war dann so eine Art Schlüsselerlebnis. Uns ist klargeworden, dass wir nicht gemerkt hatten, dass ältere Menschen, die eigentlich normal und gesund wirkten, wesentliche Dinge gar nicht mehr erfassen konnten. Oft steckte eine Demenz im Anfangsstadium dahinter.“

Die Arbeit des Vereins

Der Verein, der aus 16 geschulten ehrenamtlichen Helfern besteht, arbeitet mit der Deutschen Alzheimer Gesellschaft zusammen und bekommt von dort viele Materialien, die an die Familien verteilt werden. „Wir haben es uns zum Ziel gesetzt, Menschen über diese Krankheit zu informieren und sie praktisch zu unterstützen. Menschen mit Demenz sollen so lange wie möglich zuhause leben können“, sagt Gudrun Gille.

Um das zu ermöglichen, bietet der Verein einen ehrenamtlichen Helferkreis an, der je nach Wunsch der Familie, etwas mit den an Demenz Erkrankten unternimmt. Diese Aktivitäten umfassen zum Beispiel Spazierengehen, einkaufen oder sich einfach unterhalten. Außerdem wird ein Gesprächskreis für Angehörige angeboten, in dem sich diese über ihre Erfahrungen austauschen können.

Auch etwas jüngere Menschen, die an Demenz erkrankt sind, finden Hilfe in einer Selbsthilfegruppe. Sie stehen oft noch mitten im Leben und haben andere Fragen, als zum Beispiel ein 85-Jähriger, der mit solch einer Krankheit anders umgeht.  

Der Umgang mit der Demenz

Im Gespräch mit den Familien zu bleiben, sei laut Gille sehr wichtig. Besonders bei sehr starken Auffälligkeiten, beispielsweise wenn der Demenzkranke andere beschuldigt, etwas geklaut zu haben oder sagt, er habe sich mit seinem Bruder getroffen, der aber eigentlich seit 20 Jahren tot ist. „Das macht ja was mit Menschen und oft werden Familien dadurch stark belastet. Doch so schlimm die Diagnose ist, so wichtig ist es, anzuerkennen, dass Demenz eine Krankheit und bei dieser im Gehirn nicht mehr alles geordnet ist“, sagt Gille deutlich. Umso eindrucksvoller ist es aber, wenn Angehörige sagen, wie toll es ist, dass sie nun mehr über Demenz wissen und gut innerhalb der Familie zusammenarbeiten können.

Nicht immer alles zu ernst zu nehmen und auch mal über eine Situation lachen zu können, sei auch wichtig: „Ich betreute mal eine alte Dame, die mit ihrem erkrankten Mann zusammenlebte, aber sich ihr Bein gebrochen hatte. Da fragte sie ihn, ob er Wasser aus dem Keller mitbringen könnte, was er auch tat. Jedoch brachte er einen mit Wasser gefüllten Eimer mit. Sie sagte mir, dass sie ihm am liebsten den Eimer über den Kopf geschüttet hätte, aber am Ende mussten sie beide darüber lachen. Das ist für mich ein gutes Beispiel gewesen, wie man manche Situationen auflösen kann“, erzählt Gille lächelnd. Der Partner oder Angehörige sollte aber keinesfalls den Demenzkranken auslachen, da dieser diese Reaktion nicht einordnen könnte. Es ist immer eine Gratwanderung.

Warum trifft es ausgerechnet mich?“

„Natürlich gibt es Fälle, die einen nicht richtig loslassen. Ich höre oft rührende Geschichten von Lebenspartnern, die sich doch schon vor dem Altar versprochen haben, immer füreinander zu sorgen. Da muss ich dann auch ehrlich sein und darauf aufmerksam machen, dass sie nicht wussten, wie das Leben mit Demenz aussehen würde“, sagt Gudrun Gille. Sie müsse den Leuten auch immer wieder den Druck und das schlechte Gewissen nehmen. Das Netzwerk Demenz versucht, immer neue Wege zu zeigen und ihnen zu helfen.

Oft stellen sich die Betroffenen auch die Sinnfrage: „Warum trifft es ausgerechnet mich?“ Oder auch: „Was macht Mensch sein aus, wenn ich nicht mehr weiß, wer ich bin? Bin ich dann noch ein vollwertiger Mensch?" Durch Beantwortung dieser Fragen ist das Netzwerk Demenz Hemer auch immer wieder eine große seelische Unterstützung und unheimlich wichtig für alle Betroffenen.

 

 

Von Marie Junga
Veröffentlicht am 20.04.2016