Selbstversuch

Dein Alter Ego

Die richtige Balance finden. Foto: Pixabay

Viele Studien zeigen: Der westliche Mensch leidet immer mehr unter dem Druck einer auf Leistung und Performance getrimmten Gesellschaft. Die Krankenkasse Barmer GEK führte 2015 eine Umfrage unter Vollzeit-Beschäftigen durch. Das Ergebnis: 18 Prozent der Befragten stoßen oft an ihre maximale Leistungsgrenze und 23 Prozent machen während der Arbeitszeit keine Pausen. Das führt zu Stress, der das Leben vieler bestimmt. Aus diesem Grund überlegen sich einige Menschen, welche Methoden man anwenden kann, um entspannter durch den Alltag zu gehen. Eine scheinbare Lösung: Meditation. Ein Selbstversuch eines gestressten Studenten.

Im rötlich-gelben Schein der Deckenlampe lauschen sechs Leute den Worten einer tiefen Männerstimme. Einer von den Zuhörern bin ich. Ein junger Journalismus-Student, der sich traut, unorthodoxen Wegen zu folgen, um das zu erreichen, was Generationen vor ihm schon versuchten: Stressabbau kurz vor Beginn der ersten Prüfungsleistung eines Semesters. Der Indiana Jones des scheinbar-esoterischen Wirrwarrs, welches eine Entschleunigung des Lebens verspricht. Der Captain Picard der als verloren geglaubten Enterprise mit der Mission Entspannung. Einer, vor übermäßiger Selbstüberschätzung triefender, junger Erwachsener. Einer mit einem zu großen Ego.

Das Ego und Ich

„Das Problem ist das Ego. Du bist Ego“, sagt die tiefe, entspannte Männerstimme von Sahin. Ego sei ein Problem von jedem, erklärt er weiter. Wie auf Befehl hört man vor der Tür einen lauten Auspuff dröhnen. Sahin, dessen geistlicher Name Arslan lautet, wird die Meditation leiten. Doch vorher erklärt er seiner Gruppe warum die Meditation wichtig für jeden sei. Seine Gruppe besteht aus seiner Freundin Suzan, seiner Schülerin Franziska, den zwei Studentinnen Anna und Sabrina, einer ehemaligen Patientin von ihm mit ihrem Hund Whiskey und mir. Während ich auf der schwarzen Ledercouch sitze, redet Sahin von dem Grundgedanken der Meditation. Die Gedanken abschalten und sich dadurch mit sich selbst auseinandersetzen. „Wenn du das versuchst, wirst du mehr Gedanken haben als du dir vorstellen kannst“, erläutert er weiter. Meditation lerne man nicht nach einer Sitzung.

Das bestätigt auch die Wissenschaft. Meditation funktioniert; aber nur bei regelmäßiger Ausübung. Hirnforscher fanden heraus, dass durch die Meditation Veränderungen im Nervensystem des Gehirns auftreten, indem sich die graue Substanz des Hippocampus verdichtet. Das kann zu Stressentlastung und weniger Angst führen. Dazu kann es noch als Prävention gegen Demenz dienen.

Meditation am Strand

„Schließt eure Augen.“ Die Meditation beginnt. Orientalische Entspannungsmusik spielt. Es ist ruhig. Sahin sagt, wir sollen zehnmal tief ein- und ausatmen. Mit jedem Atemzug setzt ein wenig mehr Ruhe ein. Ich fokussiere mich nur noch auf meine Atmung. Doch so ganz lasse ich meine Gedanken nicht los. Die Uni, die Hobbies, bald ist Wochenende. Es ärgert mich, dass ich nicht abschalten kann. Ich versuche immer stärker nicht mehr zu denken. Ein Teufelskreis. Durch den Versuch, nicht mehr zu denken, überlege ich, wie ich es schaffe, nicht mehr zu denken. „Ihr seid an einem Strand.“ Es funktioniert. Ich sehe einen Strand.

Der göttliche Geist

Aber die Freude weilt nur kurz. Er hat mich schon wieder verloren. Nachdem meine Gedanken vom salzigen Meerwasser weggespült wurden und ich als Wind davon geweht bin, haben mich meine alltäglichen Gedanken wieder eingeholt. Das kann doch nicht wahr sein, denke ich mir, während Sahin in seiner Meditation immer weiter abstrahiert. Er sagt, unser Geist sei größer als der Wind, er sei auch größer als die Erde oder das All, er sei göttlich. Auch wenn ich mich im ständigen Kampf mit meinen Gedanken befinde, finde ich trotzdem Momente der Entspannung.

Die Meditation geht zu Ende. Alle öffnen wieder die Augen. Whisky, der kleine braune Hund mit dem zotteligen Fell, liegt in der Mitte des kleinen Raumes und scheint noch in seiner Hundemeditation zu sein. Dann plötzlich, als wir alle wieder bei vollständigem Bewusstsein sind, schreckt er auf. Ich fühle mich nicht großartig anders als vorher. Ich bin kein Dalai-Lama geworden, habe keine Erleuchtung gefunden und empfinde jetzt plötzlich auch kein neues Lebensgefühl. Trotzdem bin ich ruhiger als vorher und das auch schon nach der ersten geführten Meditation. Das Auseinandersetzen mit den eigenen Gedanken hat etwas grundlegend Urtypisches. Durch die Fähigkeit, seine Gedanken zu kontrollieren und zu nutzen, wurde der Mensch zu dem, was er heute ist und doch scheinen wir manchmal die Kontrolle zu verlieren.  

Die Balance finden

Ich lasse meinen Blick durch das rötliche Zimmer schweifen. Sabrina Meyer und Anna Musch, die auch beide zum ersten Mal bei einer Sitzung mitgemacht haben, schauen ähnlich wie ich. Musch sagt: „Ich war weg“, während Sabrina Meyer es auch „schwer fand, an nichts zu denken“. Das hat auch Sahin bemerkt. Er erklärt, dass das mit der Meditation genauso sei wie mit allen anderen Sachen. Manche haben mehr Talent für sowas als andere, aber im Endeffekt mache auch viel die Übung aus. Ich bedanke mich für die Erfahrung und verlasse mit Anna und Sabrina das Haus. Ich blicke zurück und sehe das Logo des Ladens: „Weisser Weg Meditation“.

Auf dem Weg zum Auto unterhalte ich mich noch mit den anderen. Sie berichten, dass sie es auch schwer fanden, der geleiteten Meditation zu folgen. „Es hat aber auch irgendwie Spaß gemacht“, sagt Musch. „Ja es war schon interessant“, antwortet Meyer. Während ich den Bürgersteig entlang gehe, beobachte ich, wie die hellen Lichter der vorbeifahrenden lauten Autos die Dunkelheit der Straße erhellen.

Von Sebastian May
Veröffentlicht am 17.11.2017