Zuhause auf Zeit

Betreute Wohnheime bieten Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen neue Perspektiven. Foto: Laura Tump

Iserlohn. Wenn Kinder oder Jugendliche sich zu Hause nicht mehr sicher fühlen, haben sie die Möglichkeit, Schutz in betreuten Wohnheimen zu suchen. Asli ist in so eine Situation geraten – ihr Zufluchtsort: die Inobhutnahme Iserlohn.

„Sie ist tot.“ Die Antwort auf die Frage nach ihrer Mutter. „Und dein Papa?“ „Den kann man vergessen…“ Mehr möchte sie dazu nicht sagen. Asli ist 15. Sie ist seit drei Monaten hier. 

Sieben Plätze plus drei Notplätze. Das ist die Inobhutnahme der evangelischen Jugendhilfe Iserlohn. Florian Otting ist Gruppenleiter und einer der sieben Betreuer der Einrichtung für Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren. Der gelernte Erzieher möchte seinen Job gegen keinen anderen tauschen. Er stellt für seine Schützlinge den Ansprechpartner dar, den die meisten nie hatten.

Die Inobhutnahme in Iserlohn bietet Jugendlichen einen Schutzraum abseits ihres sozialen Umfelds. Sie liegt geschützt hinter dem Gebäude der Jugendhilfe. Die zwei Treppen erklimmt Florian im Laufschritt. Hinter der Tür liegt sein zweites Leben, sein Leben für die Kinder, die ihn so dringend brauchen. Als er den Gemeinschaftsraum betritt, schlurft die 15-jährige Asli gerade aus ihrem Zimmer. Das türkische Mädchen strahlt ihn mit ihren dunkelbraunen Augen verschmitzt an. Ein weites T-Shirt und eine kurze Schlafanzughose. Asli ist gerade erst aufgestanden. Es ist 13 Uhr. „Hey, Flo“, ein Check mit der Hand, „ich geh jetzt duschen“. Sie schaut ihren Betreuer an, dann geht sie zur Kommode in der Ecke. Aus der Schublade zieht sie einen Einwegrasierer aus seiner Verpackung. Ein fragender Blick zu Florian – der nickt – und sie zieht ab in Richtung Dusche. 

Irgendwann war alles zu viel

Asli ist Einzelkind. Ihre Mutter ist tot. Über ihren Vater will sie nicht sprechen. Probleme gab es mit ihm, und als ihre Mutter starb wurde es immer schlimmer. Irgendwann war alles zu viel. Asli spricht von psychischen Problemen: Depressionen. Sie verlor die Lebenslust, wollte irgendwann nicht mehr, konnte irgendwann nicht mehr. Selbstmord – ein hartes Wort. Asli erzählt in einem Nebensatz nur von Suizid. Suizid. Das klingt nicht so schlimm. Für ein Jahr zog Asli zu ihren Großeltern. Jetzt hat sie ein kleines Zimmer in der Inobhutnahme. Stolz zeigt sie ihre vier Wände. „Ich erkläre es so, wie die Betreuer die Zimmer immer vorstellen. Ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch.“ Jedes Zimmer ist gleich eingerichtet. Doch Aslis Reich ist anders. Bunter. Im Schrank stapeln sich unzählige Klamotten. Neben dem Bett steht ein Umzugskarton voll mit CDs und anderen Habseligkeiten. An der Deckenlampe hängt ein blauer Regenschirm. „Das ist mein Style.“ Asli hat extra aufgeräumt. Das gehört zu den Regeln der Inobhutnahme. Morgens: Schule. Mittags: Aufräumen. Asli geht nicht zur Schule. Im Moment nicht. Nächstes Schuljahr möchte sie wieder anfangen und die neunte Klasse wiederholen.

Ein geschützter Raum für Kinder und Jugendliche

Asli ist gerne hier. Hier gibt es keinen erhobenen Zeigefinger. Die Inobhutnahme ist kein Erziehungsheim. Sie ist eine Aufnahme, eine Übergangslösung, ein geschützter Raum. Ein Schutz für die Kinder vor ihren Eltern. Oder ein Schutz für die Eltern vor ihren Kindern. Beides ist möglich. Beides kommt regelmäßig vor. „Manchmal kommen die Kinder, weil sie es Zuhause nicht mehr aushalten“, erzählt Florian. Das Thema häusliche Gewalt ist hier kein Einzelfall. Doch es sind nicht immer die Kinder, die Schutz suchen. Verzweifelte Eltern, die nicht mehr weiter wissen. Auch das ist Alltag in der Inobhutnahme. „Oder die Polizei bringt des Nachts einen Jugendlichen, der ausgerissen ist oder gerade bei einer Prügelei gefasst wurde.“

24 Stunden am Tag verfügbar

Der gelernte Erzieher hat schon viel erlebt. „Inobhutnahme, das heißt 24 Stunden am Tag verfügbar sein.“ Mindestens einer der Betreuer ist immer vor Ort. Die drei Männer und vier Frauen arbeiten in Schichten. Für den Nachtdienst ist ein Zimmer direkt neben denen der Jugendlichen eingerichtet. Ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch.  Bei Schichtwechsel erfolgt eine kurze Besprechung. Wie ist der Dienst gelaufen? Gab es etwas Besonderes? Welches Kind hat sich wie verhalten? Florian sieht sich aber nicht als Therapeut. „Ich bin Ansprechpartner für die Jugendlichen. Ich biete ihnen meine Hilfe an, um gemeinsam neue Perspektiven zu entwickeln. Wir führen Gespräche mit den Kindern und auch mit den Eltern, aber wir machen hier keine Therapie. Meine Aufgabe ist es, die Kinder zu begleiten und ihnen einen Schutzraum zu bieten. Meist auch nur für ein paar Tage oder eine Nacht.“ Das Zuhause auf Zeit. Ein Tag. Zwei Wochen. Drei Monate. 

Eigenverantwortung ohne Druck

Die Tage in der Inobhutnahme haben eine bestimmte Struktur. Bei der Morgenrunde werden mit allen aktuelle Themen besprochen, was gerade in der Welt passiert, oder auch lebenspraktische Dinge wie Wäsche waschen. Auch die Jugendlichen können ansprechen, was sie beschäftigt. „Da kommen auch mal Beschwerden der Mädels, dass die anderen das Bad nicht sauber halten.“ Gemeinsam wird dann nach einer Lösung gesucht. Die Bewohner der Inobhutnahme sind selbst dafür verantwortlich, die Räume sauber zu halten. Jedem werden Dienste zugeteilt. Flur saugen. Wischen. Zimmer aufräumen. Unterstützt werden sie durch eine Hauswirtschaftskraft. Die ist auch für das Essen zuständig. 12 Uhr: Mittagessen. 19 Uhr: Abendessen. Das Abendessen ist Pflicht. Alle sollen gemeinsam essen. Alle sollen sich zu einer festen Zeit blicken lassen. Florian ist das wichtig, um den Tagesablauf zu strukturieren. In der Inobhutnahme gibt es nicht viele Regeln und auch kaum Konsequenzen. Wer nicht aufstehen will, steht eben nicht auf. Die Jugendlichen haben keinen Druck. Sie werden hier aufgenommen, aufgefangen. Regeln – die hält das restliche Leben noch genug bereit. 

Aslis Zukunftsperspektive

Asli verlässt bald die Inobhutnahme. Sie zieht in eine Mädchengruppe. Dort wird sich einiges ändern. „In der Gruppe gibt es Konsequenzen. Hier ist alles voll locker.“ Asli genießt das Leben in der Einrichtung. Hier hat sie ihre Ruhe. An der Wand zwischen Besprechungszimmer und Küche hängt ein Wochenplan. Für jeden Tag der Woche ist hier der Tagesablauf aufgelistet. Das Wochenende ist frei für Aktionen mit der Gruppe. Eis essen im Sommer, Schlittschuh laufen im Winter, Schwimmen, klettern, Spiele spielen. Neben dem Wochenplan steht ein schmales Regal. Gemeinschaftsspiele stapeln sich für jedermann zugänglich. „Die neuen Spiele werden allerdings im Büro verwaltet und sind nur gegen einen Pfand auszuleihen. Wer nichts aus dem Regal spielen möchte, muss sich an uns Betreuer wenden.“ Florian vertraut seinen Schützlingen, doch er macht seinen Job lange genug um zu wissen: „Was rumliegt, kommt weg“. Asli zieht eine Grimasse. Florian weiß nie, was ihn erwartet. Er ist nur das Zuhause auf Zeit. Daraufhin arbeiten, mit den Kindern und Jugendlichen die bestmögliche Perspektive zu entwickeln. Genau das ist sein Job. Genau das macht ihm Spaß. Florian kennt viele Geschichten. Meist beginnen sie traurig. Aber enden sollen sie gut. Das wünscht sich auch Asli.

 

(Namen der Jugendlichen wurden geändert)

 

Von Katharina Schuldt
Veröffentlicht am 10.10.2012