Zwei Jahre Pflegereform: Weiterhin Mängel

Im Altenpflegeheim Hermann-von-der-Becke in Hemer hält man nicht viel von der Pflegereform. Foto: Florian Hermes

Hemer. Mehr Geld für Patienten, eindeutige Bewertungsmaßstäbe für Pflegeeinrichtungen, mehr Transparenz für Angehörige. Mit diesen Versprechen wurde die Pflegereform 2008 verabschiedet. Doch grau ist alle Theorie. Die Reform geht am Patienten vorbei.

Wie geht es weiter mit den rund 2,3 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland? Mit dieser Frage beschäftigte sich die große Koalition bereits vor zwei Jahren. Ergebnis der monatelangen Diskussion war die längst überfällige Pflegereform, die zu Beginn dieses Jahres in die zweite Umsetzungsphase gegangen ist. Ziel des Reformpakets war es, der steigenden Anzahl an Pflegebedürftigen in Deutschland Herr zu werden. Weiterhin stand die Entbürokratisierung des Systems im Mittelpunkt, außerdem werden Pflegeeinrichtungen angehalten, Kooperationsverträge mit Ärzten aus der Umgebung abzuschließen. Dies soll das traditionelle Hausarztprinzip ablösen. Die Pflegeheime selbst sollen vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen (MDK)  durch ein Bewertungssystem nach Schulnoten eingestuft werden, sodass für den Verbraucher klarer erkennbar ist, wo gut und wo schlecht gepflegt wird. Vom Patienten selbst ist in der Reform allerdings nur selten die Rede.

Streitpunkt Entbürokratisierung

Auf Zustimmung stößt die Reform bei Ärzten und Pflegepersonal nur sehr bedingt: „Es fehlen einfach Praktiker an den Tischen in der Politik“, erklärt  Carolin Altmann, Pflegedienstleiterin im Altenpflegeheim Hermann-von-der-Becke in Hemer. Von „Entbürokratisierung“ sprach die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) bei der Einführung – in der Praxis ist der Verwaltungsaufwand für Pflegeheime jedoch weiter gestiegen. Jede Pflegekraft in Hemer benötigt pro Monat einen „Bürotag“, der ausschließlich dazu dient, der immensen Dokumentationspflicht nachzukommen. „Diese Zeit fehlt uns am Patienten“, kritisiert Simone Viebahn, die seit 18 Jahren als Altenpflegerin arbeitet. Die Tatsache, dass beispielsweise Hygiene- und Desinfektionsvorschriften sowohl von der Heimaufsicht, dem Gesundheitsamt als auch neuerdings dem MDK in gleicher Weise geprüft werden, sei weder ein Paradebeispiel für gelungene Entbürokratisierung noch für effiziente Arbeitsteilung, ergänzt Altmann. Auch Ärztesprecher Dietmar Hüwel aus Schwerte kritisiert das „Inspektorentum“ in deutschen Pflegeheimen: „Das treibt einem die Zornesröte ins Gesicht. Die Qualität der Betreuung nimmt dadurch deutlich ab.“

Zusammenarbeit mit Hausärzten durchweg positiv

Sowohl Ärzte als auch Pflegepersonal lehnen die Einführung so genannter „Heimärzte“ ab. Diese sollen per Kooperationsvertrag an ein Heim gebunden werden und sich an Stelle der jeweiligen Hausärzte um die Bewohner kümmern. „Die Hausärzte kennen die Patienten meist seit Jahren und wissen deutlich genauer, was unseren Bewohnern fehlt, als ein Heimarzt, der sich erst in unzählige Krankenakten einlesen müsste“, sagt Pflegedienstleiterin Altmann. Zu einem Bruch zwischen Heimleitung und Ärzteschaft ist es nicht gekommen. Im Gegenteil: Mit der Qualität der ärztlichen Betreuung ist die Heimleitung in Hemer auch nach Einführung des Regelleistungsvolumens, das die Aufwendungen für die Behandlung eines Patienten pro Quartal stark einschränkt, sehr zufrieden. „Ich kenne keinen Fall, in dem ein Arzt sagt, er habe kein Budget mehr für weitere Behandlungen. Die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut.“

„Langfristig steuern wir auf einen Pflegenotstand zu.“

Den gestiegenen Pflegeanforderungen steht ein zunehmender Mangel an qualifizierten Fachkräften gegenüber. Da die vorhandenen Fachkräfte immer mehr Zeit mit der Dokumentation verbringen müssen, lastet ein wachsender Teil der Versorgung der Heimbewohner auf den Schultern weniger qualifizierter Hilfskräfte. „Das Aushilfspersonal mit geringem Kompetenzgrad ist in manchen Fällen schlichtweg überfordert und trifft so falsche Entscheidungen“, sagt Ärztesprecher Hüwel. „Wir brauchen eine höhere Quote an qualifiziertem Personal“, stimmt Heimleiterin Carolin Altmann zu. Auf dem Arbeitsmarkt schlagen sich die durch die Reform erschwerten Arbeitsbedingungen bereits nieder: „Wir haben große Probleme, neues Personal zu finden. Langfristig steuern wir auf einen Pflegenotstand zu, wie er beispielsweise in Niedersachsen oder Schleswig-Holstein bereits Realität ist“, sind sich Altmann und die Pflegerin Viebahn einig.

Unausgereiftes Bewertungssystem

Die Idee, sich im Internet besser über die Qualität einzelner Pflegeheime anhand einer Bewertung durch den MDK informieren zu können, wird prinzipiell als richtiger Schritt gesehen, doch herrscht bei den Bewertungskriterien noch massiver Nachholbedarf. So kann etwa eine Einrichtung Minuspunkte aufgrund schwerer Pflegemängel durch die Errichtung umzäunter Gartenanlagen einfach ausgleichen. Ein realistisches Bild der praktischen Abläufe in einem Pflegeheim wird damit nicht gezeigt, in der Gesamtbewertung läge solch ein Heim also trotz gravierender Defizite bei der Betreuung des Patienten noch im Mittelfeld.

Apropos Patienten: An die wurde bei der Reform offensichtlich am wenigsten gedacht. Lediglich ein Fünftel der  Bewertungskriterien berücksichtigt die Wünsche des Patienten.

Als Konsequenz daraus könnte sich in Zukunft ein Kampf um Bewertungspunkte ergeben – und nicht um das Wohlbefinden der Menschen, um die es zuallererst gehen sollte.

Von Christoph Schneider und Florian Hermes

Veröffentlicht am 26.04.2010