Einen Tag Weihnachten schaffen

Seit dem Ende des 19.ten Jahrhunderts gehören Weihnachtsbäume fest zur westlich-weihnachtlichen Tradition. Foto: Sebastian May

HAGEN. Sonntagmorgens, 8:30 Uhr. Ich zwänge mich in ein zu enges Sportunterhemd. T-Shirt anziehen, den grünen Pullover drüber. Auf dem Weg zur Wohnungstür greife ich in die kleine, dunkle Kommode im Flur und hole meine grauen, gebrauchten Arbeitshandschuhe und meinen schwarz-gelben BVB-Schal heraus. Das Auto aufmachen, einsteigen, losfahren. Beim Blick aus der mit Tropfen übersäten Windschutzscheibe meines Autos, frage ich mich, was mich wohl erwarten wird. Einen Tag Weihnachtsbäume verkaufen.

Die Straßen sind leer. Am Morgen eines dritten Advents sind noch nicht viele Autos unterwegs. Mein Weg führt heraus aus den graubraunen Fassaden der Stadt, hin über lange, breite Landstraßen und vorbei an jeder Menge Weihnachtsbaumfelder. Plötzlich füllt die weibliche Stimme des Navigationsgerätes die Stille im Auto. „In 500 Metern haben sie ihr Ziel erreicht.“ Mein Blick fährt suchend den Fahrbahnrand entlang. Dann erblicke ich ein Schild mit einem roten Pfeil und einer roten Aufschrift: „Weihnachtsbäume“. Das muss es sein. Ich parke direkt gegenüber des Schildes und steige aus. Der Weihnachtsbaumstand, an dem ich heute Weihnachtsbäume verkaufe, ist ein kleiner, lokaler Stand auf dem Gartengelände eines Wohnhauses. Ungefähr 150 Tannen stehen in dem urigen Garten. Eine Familie, Vater und Sohn, leiten das Geschäft. 

Zuerst die Arbeit dann das Vergnügen

 Frank Karthaus, der gemeinsam mit seinem Vater den Verkauf leitet, begrüßt mich herzlich. Bevor ich mich in die Arbeit stürzen kann, gibt es erstmal eine Theorieschulung. „Es gibt einmal die Nordmanntanne und es gibt die Blaufichte. Die Nordmanntanne wächst langsamer und kostet daher mehr. Dafür sind die Spitzen nicht so scharf wie bei der Blaufichte. Die Blaufichte ist dafür billiger. 80 Prozent aller Leute kaufen aber die Nordmanntanne“, erklärt Frank Karthaus. `Das werde ich mir wohl gerade noch merken können`, denke ich mir und nicke. Ich freue mich auf die ersten Kunden und denke mir schon mal eine Verkaufsstrategie aus. Freundlich, aber bestimmt sein. Zeigen, dass man selbst der Experte ist und nicht der Kunde, aber trotzdem respektvoll und zuvorkommend sein. Der Kunde ist schließlich König.

 

Jedoch werde ich schnell aus meiner Planung gerissen als Frank mich auffordert, ihm zu helfen. Anstatt Bäume zu verkaufen, müssen wir erstmal neue Bäume auspacken, aufbereiten und aufstellen. Die Tannen werden nicht vor Ort, sondern auf einem Feld etwas abseits geschlagen und daraufhin zum Stand gefahren, wo sie von der Folie, welche zum Schutz um die Bäume gesponnen wurde, befreit werden. Dann wird der Baum aufgerichtet und die eingeengten Äste werden auseinander, in die Breite, gezogen. Was bei einem ein Meter großen Baum noch sehr einfach sein mag, erfordert bei einem drei Meter hohen Baum etwas Feingefühl. Da Feingefühl allerdings nicht zu meinen Stärken (oder Neudeutsch: Kernkompetenzen) zählt, schlage ich mir die Äste eher selbst ins Gesicht, als dass ich sie ihre Ganze Schönheit entfalten lasse. Während mir die Äste reihenweise harzerfüllte Ohrfeigen verpassen, schlägt sich mir eine Frage ins Gehirn: Warum gibt es eigentlich Weihnachtsbäume?

 Geschichten vom ersten Mal

Den Weihnachtsbaum als beliebtes Dekorationselement in der weihnachtlichen Zeit gibt es bereits seit dem 16. Jahrhundert. Damals fingen Gilden, Zünfte und der Adel an, die grünen Tannen bei sich aufzustellen. Sie waren geschmückt mit Obst und kleinen Süßigkeiten und waren ein Zeichen für Segen und Kraft. Doch auch schon vor dem 16. Jahrhundert wurden Tannenbäume gefällt und aufgestellt. Heidnische Gruppierungen im Spätmittelalter verbanden mit den Bäumen Riten und Feierlichkeiten. Ein fester Bestandteil der weihnachtlichen Tradition wurde der Weihnachtsbaum erst im 19 Jahrhundert. Zu dieser Zeit immigrierte der Brauch von Europa in die ganze Welt. In der Mitte des 19.Jahrhunderts wurden die ersten Christbaumkugeln der Welt geschaffen, 1882 wurde das erste Mal ein Weihnachtsbaum mit elektrischem Licht bekleidet und schließlich wurde 1891 zum ersten Mal ein Weihnachtsbaum am Weißen Haus in Washington aufgestellt.

 Vom Weißen Haus ist diese Arbeit noch ziemlich weit entfernt, sage ich mir selbst, während ich den achten Baum auspacke. „Guten Morgen!“. Ich blicke hoch und sehe ein älteres Ehepaar in dicken Winterjacken eingepackt.  „Guten Morgen!“, ruft Frank zurück und rauscht an mir vorbei. Ich lasse den Weihnachtsbaum fallen und folge ihm. Nach wenigen Fragen sind die Bedürfnisse des Paares klar: Zwei Nordmanntannen, größer als zwei Meter, die eine ist für die Mutter, die andere für sie selbst. Nach der Beschreibung geht Frank zielstrebig zu zwei an den Zaun gelehnten Bäumen. Währenddessen schaut der Mann sich selbst um und erblickt einen Baum, der sich direkt neben ihm befindet. Seine Frau scheint überzeugt. „Der ist für die Mutter!“, sagt sie, während ich mich bereits auf die Suche nach einem anderen Baum mache, der mir bereits bei meiner Ankunft ins Auge fiel. Als ich ihn finde und dem Ehepaar präsentiere, scheint meine Begeisterung für diesen Christbaum nicht ansteckend gewesen zu sein. „Der ist zu spiddelig.“ Ich habe dieses Wort noch nie gehört, aber ich gehe aufgrund der Mimik der Kunden davon aus, dass das nicht „der ist der beste Baum, den ich je gesehen hab. Den muss ich unbedingt haben“ bedeutet. Doch auch Franks Bäume scheinen nicht zu überzeugen. Das Verkaufen scheint schwerer zu sein als ich mir das vorstellte. Währenddessen hat sich der Mann wieder einer anderen Nordmanntanne zugewandt. Er führt den Baum seiner Frau vor. Sie lächelt. „Den nehmen wir, der passt super auf unseren Balkon.“

 Von Aufwand und Erwartungen

 Nachdem wir die beiden Bäume eingepackt haben und die Kunden zufrieden mit ihren Tannen das Gelände verlassen, bin ich enttäuscht. Da überlege ich mir, wie man den Baum am besten verkauft und dann suchen die Kunden sich selbst den Baum aus. „Das ist Teil der Arbeit. Es gibt kein Rezept.“, erklärt mir Frank. In diesem Moment parkt ein Wagen vor dem Hof. Ein alter Mann steigt aus. Er trägt eine grüne Jacke und eine grüne Hose. Auf seinem von feinen Falten gezeichneten Stirn sitzt ein brauner Hut mit einer langen schwarz-braunen Feder. Es ist Manfred Karthaus, der Gründer des Standes und Vater von Frank. Auch er begrüßt mich herzlich, während ich die neu gefällten grünen Tannen aus dem silbernen Autoanhänger trage. Nachdem wir die Bäume zusammen stapeln, unterhalte ich mich kurz mit ihm.

 Er erklärt mir, wie viel Arbeit es ist, sich das ganze Jahr um die Bäume zu kümmern. Von tausend gepflanzten Bäumen sind nach einigen Jahren des Wachsens nur circa 800 Tannen für den Verkauf bereit. Der Rest ist zu schief oder durch Tiere und die Natur beschädigt. „Im Monat verbringe ich so 20 bis 25 Stunden in meinen Tannen“, erläutert er. Das Ganze sei ein schöner Zusatzverdienst neben seiner wohlverdienten Rente. Er gründete den Stand zusammen mit einem Freund und über die Jahre bauten sie sich eine feste Stammkundschaft auf, die jedes Jahr bei ihm die Bäume kaufen. Seit ein paar Jahren unterstützt sein Sohn ihn nun bei der Arbeit, da er es nicht mehr alleine schafft.

 Bis zwölf Uhr passiert nicht viel. Ab und zu treffen ein paar Kunden ein, doch die anderen Arbeiter, insgesamt arbeiten noch drei weitere Personen an diesem Stand, die meisten sind Freunde der Familie, stürzen sich wie hungrige Löwen auf jeden Kunden, der einen Fuß auf den Stand setzt. Doch dann kommt meine Chance. Es ist wieder ein altes Ehepaar, das suchend das Gelände betritt. Meine ersten Kunden, die ich ganz alleine bediene. Da ich mir den Gesprächsverlauf mit dem ersten Ehepaar gemerkt habe, frage ich sie als erstes nach ihren Wünschen. Sie antworten, der Baum solle nicht zu teuer sein, was bedeutet, dass der Baum nicht groß sein darf, trotzdem soll er ein schönes Geäst haben. Kein Problem, denke ich, und gehe wie von einem Magneten angezogen zu einem kleinen Baum. Die Mundwinkel der Kunden verschieben sich nach oben. Ein Volltreffer. Ich nehme den Baum, packe ihn mit Hilfe von Frank ein, übergebe ihn den Kunden und so schnell wie sie gekommen sind, gehen sie auch wieder. Ein Gefühl des Stolzes breitet sich in mir aus. Mein erster selbst verkaufter Baum. Es gibt jedoch keine Zeit zum Ausruhen.

 Kunden Nummer zwei, Nummer drei, Nummer vier, Nummer fünf... Über den Verlauf des Tages kommen immer mehr Kunden, die meinen Rat schätzen und ihre Weihnachtsbäume kaufen. Ein Rhythmus spielt sich ein. Verkaufen. Bäume auspacken. Bäume sortieren. Verkaufen. Doch ehe ich mich versehe, ist der Arbeitstag schon vorbei. Ich bedanke mich bei den beiden Chefs und verabschiede mich. Ich steige in mein Auto. Es fängt an zu regnen. Beim Blick aus der mit Tropfen übersäten Windschutzscheibe meines Autos, denke ich darüber nach, was ich erlebt habe. Bäume auspacken. Bäume verkaufen. Jeden Tag bei Wind und Wetter für mehr als zehn Stunden draußen stehen und den vorbeifahrenden Kunden den passenden Christbaum zeigen. Durch diesen einen Tag verstehe ich, wie viel Aufwand hinter einem einzelnen Weihnachtsbaum steht. Ab diesem Tag schaue ich mit den anderen Augen auf das, was so simpel und so normal erschient. Einen Tag Weihnachtsbäume verkaufen.

 

 

 

 

 

 

 

Von Sebastian May
Veröffentlicht am 29.12.2017