Kinder auf Zeit

Liebe – ohne Rücksicht auf Verluste 

Die Aufnahme von Kindern auf Zeit. Foto: Pixabay

Bereitschaftspflegefamilien öffnen ihre Tür und Herz für Kinder auf Zeit. Wenn es bei Kindern Schwierigkeiten in der eigenen Familie gibt, muss manchmal schnell eine Lösung her. Das Jugendamt im Kreis Unna wendet sich in solchen Situationen unter anderem an das Ehepaar Krajewski. MAERKZETTEL hat mit der Familie gesprochen.

BÖNEN. Marita Krajewski ist Bereitschaftspflegemutter und nimmt übergangsweise Säuglinge und Kinder auf, die vom Jugendamt aus ihrer Familie geholt werden müssen. Meistens ziehen sie überraschend ein: Wenn Familie Krajewski gerade kein Kind oder Baby pflegt, kann jederzeit das Telefon klingeln. Nur kurze Zeit später steht dann bereits das Jugendamt vor der Tür. Auf unbestimmte Zeit wird das Kind zunächst bei ihnen bleiben und ab dann tagtäglich versorgt werden. Daneben Vollzeit arbeiten zu gehen, ist nicht denkbar. Trotzdem gilt Krajewskis Tätigkeit als Pflegemutter nicht als Job. Sie gilt somit als Hausfrau.   

MAERKZETTEL: Welche Aufgaben haben denn Bereitschaftspflegeeltern?  

Marita Krajewski: Bereitschaftspflege bedeutet, dass ich immer ein sauberes und vorbereitetes Zimmer zur Verfügung stelle. Ich habe Kleidung für jedes Alter: Von Baby-Kleidung, bis hin zu allen möglichen Größen. Es bedeutet, dass ich immer mein Handy bei mir haben muss, weil auch nachts angerufen werden kann. Konkret gesagt: Das Handy kann jetzt oder in fünf Minuten klingeln. Es kann einfach rund um die Uhr passieren, samstags, sonntags, Feiertage – ich muss immer bereit sein.  Die Polizei kommt dann letztlich mit dem Jugendamt zusammen vorbei und bringt die Kinder.  

Adoption im Gegensatz bedeutet, dass ein Ehepaar die Eltern von einem Kind werden und es für immer bei sich aufnehmen. Das kann aus unterschiedlichen Gründen der Fall sein, zum Beispiel weil sich die leiblichen Eltern, nicht mehr um ihr eigenes Kind kümmern können oder wollen.  

Das Handy kann also rund um die Uhr klingeln. Haben Sie auch die Möglichkeit, die Aufnahme eines Kindes abzulehnen?  

Natürlich kann ich auch Nein sagen, beispielsweise, wenn ich krank bin. Für den Kreis Unna sind wir allerdings nur ein paar Familien, die auch nachts Kinder aufnehmen.  

Wer gehört denn überhaupt alles zu Ihrer Familie?   

Ich habe zwei leibliche Töchter, die aber bereits erwachsen sind und drei Adoptivtöchter. Das heißt, neben meinen beiden leiblichen Kindern und den „Teilzeit Kindern“ haben wir drei Pflegekinder adoptiert. Eine von den dreien ist allerdings schon erwachsen, die anderen beiden sind gerade in der Pubertät und leben dementsprechend noch hier bei uns.   

Was war Ihre Motivation für die Bereitschaftspflege? Sowas haben Sie ja nicht einfach so aus einer Laune heraus entschieden.   

Das ist eine längere Geschichte. Meine älteste Tochter ist 1986 geboren, wo die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl passierte. Acht Jahre später gab es einen Aufruf in der Zeitung, wo Gasteltern für Kinder aus  Tschernobyl gesucht wurden. Wir haben darüber nachgedacht und uns dann dafür entschlossen, uns dort zu melden. So bekamen wir jedes Jahr im Sommer, für drei Monate, drei Kinder zu Besuch und im Winter jeweils für einen Monat. Dies hat uns so viel Spaß gemacht, dass wir unsere Familie einfach vergrößern wollten. Wobei wir generell auch immer drei eigene Kinder haben wollten, was aber leider nicht klappte. Daraufhin haben wir uns beim Jugendamt gemeldet und ihnen mitgeteilt, dass wir gerne ein Pflegekind aufnehmen wollen.   

Und plötzlich ist da ein Kind  

Wie ist es mit der Aufnahme der Kinder – gibt es bestimmte Voraussetzungen?  

Eine ganze Menge – ich wurde enorm überprüft. Vorlegen musste ich unter anderem ein erweitertes Führungszeugnis und mein Gehalt, damit es nicht heißt, dass ich daran nur etwas verdienen will. Das Jugendamt kam zu mir nach Hause, ich musste Bögen ausfüllen. Beispielsweise warum ich das machen möchte, was mir daran gefällt, wie ich die Kinder erziehen werde und viele weitere solcher Fragen. Ein weiterer Teil besteht darin, über mehrere Monate einen Kurs zu absolvieren – dieser findet immer an den Wochenenden statt. Dort wurde mir beigebracht, wie ich mit den Kindern und ihren Fragen umgehen sollte. Es hängt also viel davon ab, bis jemand erst einmal zugelassen wird. Wenn einem dann ein Pflegekind überbracht wird, gibt es ständige Überprüfungen. Alle zwei Monate kommt der Vormund des Kindes. In dem Gespräch wird dann besprochen, welche Dinge schlecht und welche gut laufen. Alles in allem ist es ist wirklich sehr viel.   

Reagieren Ihre eigenen auf neue Pflegegeschwister mit Vorsicht?Oder sind sie da gar nicht eifersüchtig, wenn fremde Kinder von Ihnen so viel Aufmerksamkeit bekommen?  

Meine eigenen Kinder reagieren sehr gut auf Pflegegeschwister, weshalb wir es damals auch weitergemacht haben. Natürlich haben wir es mit ihnen vorher besprochen, aber durch die Kinder aus Tschernobyl war hier immer viel Trubel. Mittlerweile sind meine Kinder aber erwachsen und sagen selbst, dass alle Pflegekinder, wie ihre leiblichen Geschwister sind. Es ist sogar so geregelt, dass falls uns mal etwas zustoßen sollte, die Kinder zu ihren Geschwistern kommen. Meine älteste Tochter macht jetzt auch selbst Bereitschaftspflege und hat bereits ein kleines Mädchen zu sich aufgenommen.   

Wie sieht das mit den Pflegekindern aus? In welchem Zustand kommen sie zu Ihnen?   

Die Kinder kommen teilweise sehr dreckig an. Manchmal ist es so, dass sie eine Plastiktüte mit Kleidung selbst mitbringen. Wobei ich sie nach dem Öffnen meistens dem Jugendamt gleich wieder mitgebe, da sie oft dreckig oder kaputt sind. Es kommt oft vor, dass Babys aus der Babyklappe abgeholt werden und diese dann bei mir landen. Insgesamt haben die Eltern acht Wochen Zeit sich zu überlegen, ob sie das Kind behalten oder abgeben wollen.  

Die meisten Kinder sind bei ihrer Ankunft in einem schlechten oder katastrophalen Zustand. Sie wurden geschlagen, sind ungewaschen oder krank. Desweiteren sind sie überwiegend unerzogen, unhöflich und haben einen schlechten Sprachgebrauch. Teilweise werden die Kinder wirklich sehr schlecht von ihren leiblichen Eltern behandelt und leiden unter starken psychischen Problemen. Es sind immer Defizite vorhanden, aber deshalb kommen sie ja auch aus ihren Familien raus und werden in Bereitschaftspflegefamilien untergebracht.  

„Etwas von uns bleibt für immer“  

Wann ist die Aufgabe in diesem Job denn besonders hart? 

Es gab mal einen Vorfall, wo die Eltern tatsächlich herausfanden, wo ihr Kind untergebracht worden ist und uns gestalkt haben. Das Telefon klingelte, ich legte auf und es klingelte ein paar Sekunden später erneut. Im Internet haben sie uns stark beschimpft. Unter anderem warfen sie uns vor, dass wir die Kinder schlagen und ihnen nichts zu essen geben würden. Daraufhin mussten wir bei der Polizei eine Anzeige gegen die Eltern erstatten. Besonders hart ist es ebenfalls, den Kindern in der Zeit wo sie hier sind anzusehen, wie ihre leiblichen Eltern ihre Seele zerstört haben. Fragen wie “Wer bin ich?”  oder “Wollen die mich nicht?” treten auf. Das macht es unheimlich schwierig an die Kinder heranzukommen, speziell in der Pubertät. Schulische Probleme und Aggressionen sind tägliche Probleme, mit denen ich umgehen muss. Sie sind keine dummen Kinder, nur sie haben so viel Anderes im Kopf, dass sie das einfach nicht schaffen. Und dieses Bild von dem Kind zu sehen, ist wirklich sehr schwer für mich.   

Und wann besonders schön? 

Schön ist es wiederrum, wenn im Nachhinein das Jugendamt nochmal anruft und mir sagt, dass ich alles gut gemacht habe und die Kinder in der neuen oder alten Familie auf einem guten Weg sind. Ich merke ja auch selbst die Veränderungen beim Kind. Ich freue mich einfach wie bei meinem eigenen Kind, wenn sie endlich vorankommen. Und so bleibt auch ein Teil von mir und meinem Mann für immer in den Kindern zurück.  

Aber wie schaffen Sie es, lieben und immer wieder loslassen, ohne dabei selbst verletzt zu werden? 

Mein Mann und ich denken nicht darüber nach. Wir blenden das völlig aus. Erst, wenn klar ist, das Kind muss gehen, reden wir darüber. Wenn wir das Kind übergeben, drücken wir es ganz fest und erst dann kommen diese Gedanken. Vorher nicht, denn das Kind würde es spüren. Die größte Disziplin der Bereitschaftspflege ist es einfach, Zuneigung und Nähe geben zu können, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Trennung fällt mir natürlich trotzdem immer sehr schwer von den Kindern. Ich hoffe einfach, dass es ihnen gut gehen wird, dort wo sie hinkommen. Wenn sie jedoch in die eigentlichen Familien zurückkehren, habe ich meist ein schlechtes Gefühl – selbst das Jugendamt. Das Amt kann teilweise gegen Gesetze nicht allzu viel machen. Das traurige ist, dass ich danach nichts mehr über die Kinder erfahre, sie sind weg und mir wird nichts mehr gesagt.   

Was wünschen Sie sich für Ihre Pflegekinder?   

Eine Trennung ist im Grunde auch ein neuer Anfang – Im besten Fall. Und genau das ist es auch, was ich meinen Kindern wünsche: Einen Neuanfang. Ebenso eine gute Ausbildung, natürlich in dem Maße, wie es ihr Zustand zulässt und einen Beruf, der ihnen Spaß macht. Und wenn möglich, dass wir immer als Familie zusammenbleiben. 

Von Michelle Reichelt
Veröffentlicht am 08.05.2020

Michelle Reichelt

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